Lesben und Schwule kannte ich früher nur aus Film und Fernsehen. Meine Eltern sind schon fast ihr ganzes Leben lang bei den Zeugen Jehovas.

Wächst man unter solchen Umständen auch noch in einer provinziellen Umgebung (wie es das Allgäu nun einmal ist) auf, so hat man zu Menschen, die eine homosexuelle Identität ausleben, keinen Bezug.

Mir steht es nicht zu, diese Organisation, ihre Weltanschauung oder gar ihren Glauben zu kritisieren. Mit Schuldzuweisungen macht man es sich oft viel zu einfach. Aber sie verleugnen, dass es Homosexuelle in ihren Reihen gibt. Einen schwulen Glaubensbruder oder eine lesbische Glaubensschwester kennt niemand. Das macht es für jemanden, der mit 19 Jahren realisiert, dass er sich sehr viel mehr und auf eine andere Weise für Männer interessiert als für Frauen, nicht gerade leicht. Genau das war jedoch bei mir der Fall. Für mich war damals klar: Ich würde mein Geheimnis mit ins Grab nehmen.

Irgendwann, ein paar Jahre später, musste ich jedoch für ein halbes Jahr beruflich nach Hannover ziehen. Fernab von zu Hause. Fern vom Allgäu. Auf mich allein gestellt. Im ersten Moment hatte ich Bedenken. Ich wusste, dass ich die Gelegenheit nutzen würde, um Schwule kennen zu lernen. Andererseits kannte ich nach 25 Jahren mein Herz. Ich hatte zwar bisher vermieden, darauf zu hören, aber ich kannte es sehr gut. In Hannover ließ ich mich zum ersten Mal in meinem Leben von meinem Herzen führen.

Gerade angekommen fiel mir ein Flyer für eine Schwulenparty in die Hände.

Ich ging hin, und es wurde eines der aufregendsten Wochenenden meines Lebens. Ich tanzte auf der Tanzfläche bis zum Morgen, lernte jemanden kennen, es war schon hell, als wir zu ihm gingen. Trotz meiner Nervosität war mein erstes Mal sehr schön.

Danach habe ich mich im Internet mit vielen netten Männern ausgetauscht.

Aber obwohl das Internet für Neulinge auf der Suche nach Ihresgleichen ein wahrer Segen ist, ist vieles darin auch aufgeblasen, hohl, unecht und unehrlich. Ich bin jemand, der den Menschen lieber in der Realität begegnet.

Deshalb ging ich ins Café Konrad an der Marktkirche. Hier konnte ich mich zuerst auf das Beobachten konzentrieren. Außerdem ging ich ins Caldo, ein Lokal, dass neben Heteros auch viele Schwule besuchen. Es war am Anfang jedes Mal eine Überwindung. Ich war zu schüchtern. Manchmal lief ich vier- bis fünfmal an dem Laden vorbei und traute mich nicht hineinzugehen. Die Angst, von Mitgläubigen entdeckt und denunziert zu werden, war immer präsent. Allerdings war meine Neugier sehr stark und fordernd.

Meine religiöse Prägung konnte ich nicht lange verdrängen. In den Jahren zuvor hatte ich die Neigung, Männer zu lieben, unterdrückt, nun musste ich meinen von den Vorstellungen der Zeugen geprägten Teil verdrängen. Innerlich fing ich wieder an, mich selbst zu geißeln. Ich wusste, dass ich diese Gefühle für Männer und die Sehnsucht nach einer liebevollen Partnerschaft auf keinen Fall mein ganzes Leben lang verdrängen oder darauf verzichten konnte. Gleichzeitig fühlte ich mich schuldig, Gott persönlich gekränkt zu haben. Ich begann darüber nachzudenken, dass es besser wäre, niemals geboren worden zu sein. Damit meinem Gott und meinen Eltern die Schande erspart blieb, einen Sohn zu haben, der es schön findet, das eigene Geschlecht zu lieben.

Der größte Feind ist man selbst. Doch ich hatte Glück. Bevor ich so depressiv werden konnte, dass ich ernste Selbstmordgedanken entwickelte, bekam ich psychosomatische Störungen. Ich wurde in die Urologie eines Krankenhauses in der Nähe von Langenhagen eingewiesen. Ich blieb eine Woche dort und nutzte die Atempause, um mich meinem inneren Konflikt zu stellen.

Von einem Zimmergenossen erhielt ich das Buch "Veronika beschließt zu sterben". Der Autor beschreibt die vielen gesellschaftlichen Zwänge, die dazu führen, dass sich Menschen umbringen wollen oder nicht mehr mit ihrem Leben klarkommen. Ein Plädoyer für eine freiheitlich denkende Menschheit ohne Ausgrenzung. Das half mir, über viele Dinge nachzudenken.

Es war damals Herbst. Von meinem Zimmer aus sah ich in dem Park vor dem Krankenhaus einen stattlichen Baum. Etliche Male ging ich spazieren und sah den Blättern zu, wie sie sanft, fast zeitlos, zur Erde glitten. Das Fallen der Blätter des Baumes wurde für mich zu einem Symbol, die Blätter waren mein altes Weltbild, ich war der Baum. Blatt für Blatt legte ich die Dinge ab, die mich krank machten. Ich machte mir aber auch klar, dass ich viele Dinge, die bei den Zeugen sehr schön sind, vermissen würde. Die warmherzigen Menschen, die sich wirklich aufrichtig bemühen, eine Bruderschaft auszuleben. Das gemeinsame Singen von Liedern. Die Zukunftshoffnung. Alles zog an mir vorbei, wie die goldgelben Blätter, die der Baum abwarf, um sich auf den Winter vorzubereiten.

Mein Bruder drängte mich, ihm den Grund für meinen Krankenhausaufenthalt zu erklären. Meine Eltern waren im Urlaub, mein Bruder machte sich große Sorgen.

Also outete ich mich vor meinem Bruder. Seine Antwort kam einen Tag später: Er rief mich an, predigte Bibelstellen und machte mir Vorschriften. Dann begann er zu weinen. Es waren Tränen, die aus Verlustangst vergossen wurden, weil er, sollte ich mich von den Zeugen lossagen, kaum mehr mit mir sprechen und mich sehen dürfte. Als er sich beruhigt hatte, begann er wieder, mir Vorschriften und Vorwürfe zu machen. "Wenn du die ,Wahrheit' verlässt, werde ich dich hassen, und Gott wird dich zu Recht vernichten", musste ich mir anhören. Mein Bruder konnte nur schwer Verständnis aufbringen, hing immer wieder an den Worten der Bibel. Irgendwann sagte ich ihm, dass ich mein Leben leben muss.

Einen Tag später vertraute ich mich einer Ärztin an, damit endlich die Ursache für meinen Krankenhausaufenthalt erkannt werden konnte. Sie machte gerade eine Zusatzausbildung zur Sexualtherapeutin und konnte verstehen, was mit mir los war. Wir redeten viel, und die Ärztin empfahl mir, einen Therapeuten aufzusuchen. Das Reden tat gut, doch das Problem mit den Zeugen Jehovas blieb. Während einer Zusammenkunft der Glaubensgemeinschaft spürte ich deren Abneigung gegen Homosexuelle. In einem Vortrag sagte der Redner:

"Homosexuelle werden nicht in das Königreich Gottes eingehen. Und das ist auch gut so!" Da er es so trocken erzählte, brach die ganze Gemeinde in Gelächter aus. Nur ich nicht. Ich konnte nur noch schwer atmen, irgendetwas schien mir die Kehle zuzuschnüren. Seit damals bin ich nicht mehr zu den Zusammenkünften dort gegangen.

Gleichzeitig lernte ich immer mehr schwule Leute kennen. In kürzester Zeit hatte ich viele neue Bekannte, die ich auf diversen Partys wiedertraf.

Man verändert sich dadurch, dass man zu sich steht. Diese Zeit war schöner und aufregender als eine wilde Achterbahnfahrt. All das gab mir Kraft, kleinere und größere Rückschläge zu verkraften. Ende Dezember war ich auf einer der berühmt-berüchtigten Partys im Pavillon. Dort fotografierte ein Mitarbeiter vom "Knackpunkt". Die Visitenkarte des Treffpunkts für Homosexuelle, die uns der Fotograf gab, steckte ich gedankenlos ein. Aber genau diese Visitenkarte werde ich noch lange in Erinnerung behalten.

Es war Weihnachten, ich war im Allgäu bei meinen Eltern. Meine Mutter wollte meine Jeans waschen und entdeckte die Karte vom "Knackpunkt". Sie fiel aus allen Wolken. Ich war bereit, ihr die Wahrheit zu sagen, hatte ich das ständige Verheimlichen doch satt. Das Ganze endete in einem Tränenmeer. Aber sie sprach mit mir als besorgte Mutter und nicht als Vertreterin des Glaubens der Zeugen. Ich war überrascht. Natürlich machte sie sich Sorgen, dass ich die Gemeinschaft verlassen könnte. Meine Mutter und ich verabredeten, meinen Vater später einzuweihen, da wir beide nicht einschätzen konnten, wie er reagieren würde.

Um mich zu sortieren, besuchte ich auf Anraten eines Freundes ein Seminar auf der Akademie "Waldschlösschen". "Finde heraus, was du vom Leben willst - so hieß der Titel. Zwölf Teilnehmer berichteten dort über ihre gegenwärtige Situation. Auch ich erzälte, wie es mir ergangen war und was nun vor mir lag: der mögliche Verlust des Kontaktes zu meinen Eltern und Geschwistern. Ein Rollenspiel, in dem ich mich vor meinen Eltern outen musste, führte mir die Situation klar vor Augen. Ich erkannte, dass ich genug Kraft besitze, um zu mir zu stehen. In diesem Bewusstsein stellte sich eine innere Ruhe ein, die ich noch nie gespürt hatte. So fühlt sich Freiheit an.

Das Wochenende im "Waldschlösschen" kam keine Sekunde zu spät. Mein Bruder begann am Montag darauf, sich nach meiner Gefühlslage zu erkundigen. Ich gab ihm zu verstehen, dass ich zwar gerne noch ein Zeuge sein wollte, mir das aber nicht möglich wäre und ich auch nicht wie Quasimodo durchs Leben gehen wolle. Mit meinen Gedanken konnte er leider nicht viel anfangen.

Zwei Tage später klingelte abends mein Handy. Unter Tränen gab mich meine Mutter an meinen Vater weiter. Der erzählte mir aufgeregt, dass mein Bruder sich an Älteste der Ortsgemeinde gewandt und meinem Dad von meiner Homosexualität berichtet hatte und davon, dass ich die Gemeinschaft der Zeugen verlassen wolle. Ich fühlte mich völlig überfahren. Auf so eine Weise sollte es mein Vater nicht erfahren. Nach unserem Telefonat, in dem er mir versicherte, dass ich immer sein Sohn bleiben werde, und in dem er mich anflehte, bei den Zeugen zu bleiben, musste er sich in einem Gespräch den Ältesten und meinem Bruder stellen. Mir tat es im Herzen weh, dass es so unnötig dramatisch gelaufen war. Aber ich hatte es nicht unter Kontrolle.

Nächste Woche fahre ich zu meinen Eltern und werde ihnen meinen Entschluss, zu mir zu stehen, in Ruhe nahe bringen. Ich bin durch diese Sache innerlich sehr stark geworden.

Der Baum, den ich im Park vor dem Krankenhaus sah, hat den Winter überstanden. Der Frühling kommt. Ich kann schon die ersten Knospen sehen.

Ich kenne schon die ersten Blüten: Freundschaft. Er wird auch bald die erste Frucht tragen: Liebe.