Der Weg aus der Sekte ist keine Entscheidung, die man von heute auf morgen treffen kann, kein einfacher Schlussstrich unter die Vergangenheit. Vielmehr ist es ein langer Prozess, der mit vielen inneren Kämpfen verbunden ist und Narben hinterlässt, die sich für lange Zeit in der Psyche festsetzen.

Jan Groenveld hat passende Worte dazu gefunden, die vermutlich auch so manchem Zeugen Jehovas Aussteiger aus der Seele sprechen.

Es tut weh...

Mit diesen Worten haben ehemalige Kultmitglieder und Mitglieder spirituellen Missbrauch treibender Systeme beschrieben, wie sie sich fühlten, als sie ihre Gruppe endgültig verlassen hatten. Dies vermittelt vielleicht einen Begriff davon, wie sie leiden und warum es für sie keine einfachen Antworten gibt.

  • Es tut weh, wenn man entdeckt, dass das, was man für die „einzig wahre Religion“, den „Weg zur völligen Freiheit“ oder die „Wahrheit“ gehalten hat, in Wirklichkeit ein Kult war (vielleicht ein etwas hartes Wort).
  • Es tut weh, wenn man erfährt, dass Menschen denen man unbedingt vertraut hat – die man nicht in Frage zu stellen gelernt hatte – einem das Fell über die Ohren gezogen haben, sogar wenn es unabsichtlich war.
  • Es tut weh, wenn man erfährt, dass gerade die, die man für Feinde zu halten gelernt hatte, die Wahrheit gesagt haben – aber sie waren dargestellt worden als Lügner, Betrüger, unterdrückerisch, satanisch usw., und man sollte bloß nicht auf sie hören.
  • Es tut weh, wenn man zwar weiß, dass das eigenen Vertrauen zu Gott sich nicht geändert hat – sondern nur das Vertrauen in eine Organisation – aber man doch beschuldigt wird, ein „Apostat“ zu sein, ein „Abtrünniger“, ein Unruhestifter, ein Judas. Es schmerzt noch mehr, wenn diejenigen, die diese Vorwürfe machen, die eigene Familie und die eigenen Freunde sind.
  • Es tut weh, wenn man einsieht, dass ihre Liebe und Anerkennung auf der Bedingung beruhte, dass man treues Gruppenmitglied bleibt. Das trifft so tief, dass man das Gefühl zu unterdrücken sucht. Man will nichts als vergessen – aber wie kann man seine Familie und Freunde vergessen.
  • Es tut weh, wenn man in den Gesichtern derer, die man liebt, Blicke voller Hass sieht und das betäubende Schweigen hört, wenn man mit ihnen zu sprechen versucht. Es trifft tief, wenn man sein Kind in die Arme zu nehmen versucht, und es steht steif da wie eine Statue und tut so, als sei man nicht da. Es schneidet wie ein Messer, wenn man weiß, dass der Ehepartner einen als vom Teufel besessen betrachtet und den eigenen Kindern beibringt, einen zu hassen.
  • Es tut weh, wenn man weiß, das man ganz von vorn beginnen muss. Man hat das Gefühl ungeheuer viel Zeit versäumt zu haben. Man fühlt sich betrogen, desillusioniert, und misstraut jedem, einschließlich der Familie, Freunden und anderer ehemaliger Mitglieder.
  • Es tut weh, wenn man auf einmal Schuldgefühle oder Scham empfindet dafür, was man einmal war -–sogar dafür, dass man sie verlassen hat. Man ist niedergeschlagen, verwirrt einsam. Man hat Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen. Man weiß nicht, was man mit sich anfangen soll, weil man auf einmal so viel Zeit hat – und doch fühlt man sich schuldig, wenn man sich Zeit für Erholung nimmt.
  • Es tut weh, wenn man sich fühlt, als hätte man den Bezug zur Wirklichkeit verloren. Man fühlt sich als treibe man dahin, fragt sich, ob es einem jetzt wirklich besser geht, sehnt sich nach Geborgenheit, die man in der Organisation hatte, und weiß doch, dass man nicht zurück kann.
  • Es tut weh, wenn man sich ganz allein fühlt – wenn niemand zu verstehen scheint, was man empfindet.
  • Es tut weh, wenn man begreift, dass Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl kaum noch vorhanden sind.
  • Es tut weh, wenn man Freunden und Familie gegenübertritt und ihr „ich hab’s Dir ja gesagt“ hören muss, ob es nun in Worte gefasst wird oder nicht. Man fühlt sich noch dümmer als ohnehin schon; Vertrauen und Selbstwertgefühl stürzen noch tiefer.
  • Es tut weh, wenn man begreift, dass man dem Kult alles geopfert hat – Ausbildung, Karriere, Geld , Zeit und Kraft – und jetzt eine Anstellung suchen oder die Ausbildung von vorn beginnen muss. Wie erklärt man anderen jetzt all die fehlenden Jahre?
  • Es tut weh, wenn man weiß, dass man, auch wenn man hinters Licht geführt wurde, doch selbst verantwortlich dafür ist, dass man sich hat täuschen lassen. All die vergeudete Zeit... als das zumindest erscheint sie einem jetzt - die vergeudete Zeit. Einen Kult zu verlassen ist, als erlebe man den Tod eines lieben Verwandten oder das zerbrechen einer engen Beziehung. Das Gefühl wird oft mit dem des Betrogenwerdens von einem geliebten Menschen verglichen. Man fühlt sich einfach ausgenützt. Man muss seine Zeit der Trauer durchstehen. Die meisten Menschen sehen ein, dass man trauern muss nach einem Todesfall und dergleichen, aber sie begreifen nur mit Mühe, dass das in dieser Situation ebenfalls gilt. Es gibt keine schnelle Heilung für die Trauer, die Verwirrung und den Schmerz. Wie bei allen Trauervorgängen ist Zeit der einzige Heiler. Manche fühlen sich auch noch wegen dieser Trauer schuldig, oder glauben etwas Falsches zu tun. Das sollten sie aber nicht denken. Es IST normal. Es ist NICHT unrecht, verwirrt, unsicher, desillusioniert, schuldig , ärgerlich, ohne Vertauen zu sein – All dies gehört dazu. Mit der Zeit werden die negativen Gefühle ersetzt durch klares Denken, Freude, Frieden und Vertrauen.

JA, ES TUT WEH; ABER DIE SCHMERZEN WERDEN GEHEILT.
DURCH ZEIT, GEDULD UND VERSTÄNDNIS
Es gibt ein Leben nach dem Kult!

Von Jan Groenveld, Übertragung: Guntram Thilo für EBI e. V.
Quelle: Berliner Dialog