Irrationale Überzeugung Nr. 2: Die Meinung, dass man sich nur dann als wertvoll empfinden dürfe, wenn man in jeder Hinsicht kompetent, tüchtig und leistungsfähig ist.

Viele oder gar die meisten Menschen in unserer Gesellschaft glauben - vielleicht mehr als die Angehörigen jeder anderen bisher existierenden Gesellschaft -, sie seien wertlos und müssten sich in eine Ecke verkriechen und sterben, wenn sie nicht in jeder möglichen Hinsicht - oder zu mindest auf einem wichtigen Gebiet - tüchtig, kompetent und leistungsfähig seien. Dieser Gedanke ist aus mehreren Gründen irrational:

1. Kein Mensch kann auf allen oder den meisten Gebieten hervorragende Leistungen vollbringen; die meisten Menschen leisten nicht einmal auf einem Gebiet Außergewöhnliches. Zwar ist es durchaus vernünftig, sich um Erfolg zu bemühen, da reale Vorteile (finanzielle Belohnungen oder erhöhtes Vergnügen) damit verbunden sind, sich im Beruf, in einem Spiel oder in einer künstlerischen Betätigung auszuzeichnen. Aber von sich zu fordern, dass man Erfolg haben müsse, heißt, sich Gefühlen der Angst und persönlichen Wertlosigkeit auszuliefern.

2. Obwohl einem ein vernünftiges Maß an Erfolg und Leistung zweifellos Vorteile einbringt (speziell in unserer Gesellschaft), hat ein zwanghaftes Leistungsstreben gewöhnlich extremen Stress, Spannungszustände und die Überschreitung der eigenen körperlichen Grenzen zur Folge: Das Ergebnis sind verschiedene psychosomatische Leiden.

3. Wer nach Erfolg und Leistung um jeden Preis strebt, fordert sich nicht nur selbst heraus und testet seine eigenen Kräfte (was sich durch aus positiv auswirken kann); er konkurriert auch ständig mit anderen und sucht diese zu überflügeln. Er wird dadurch fremdbestimmt (statt selbstbestimmt) und stellt sich faktisch unerfüllbare Aufgaben, da es vermutlich immer jemanden geben wird, der ihn übertrifft, so gut er auch auf einem bestimmten Gebiet sein mag. Es ist sinnlos, sich ständig neiderfüllt mit anderen Ehrgeizigen zu messen, da man erstens ja keinerlei Einfluss auf deren Leistungen hat, sondern nur die eigene steigern kann. In vieler hinsicht hat man auch keine Macht über die eigenen Fähigkeiten und Qualitäten - man kann beispielsweise keine Schönheit werden, wenn man als hässliches Entlein auf die Welt kommt, und man wird es nicht zum Konzertpianisten bringen, wenn man unmusikalisch ist -, es ist daher unvernünftig, sich über Wesenszüge zu grämen, die man nicht ändern kann.

4. Wer die Leistungsideologie überbewertet, verwechselt seinen Fremdwert (d.h. den Wert, den andere unserer Leistung und unseren Qualitäten beimessen) mit seinem Eigenwert (d.h. seiner Lebendigkeit, seinem Wert für ihn selbst) (Hartman, 1959). Den persönlichen Wert eines Menschen von seinen Leistungen abhängig zu machen und zu behaupten, um glücklich zu sein, müsse man andere übertreffen, heißt, sich einer zutiefst undemokratischen, faschistoiden Philosophie zu verschreiben, die sich nicht wesentlich von der Vorstellung unterscheidet, man müsse ein Arier, ein Weißer, ein Christ oder ein Mitglied des Establishments sein, um ein achtbarer, wertvoller Mensch zu sein.

5. Wer sich auf die Vorstellung fixiert, Leistung und Erfolg seien das Wichtigste auf der Welt, verliert oft eines der Hauptziele eines glücklichen Lebens aus den Augen: nämlich durch Experimentieren herauszufinden, welche Interessen uns die tiefste Befriedigung und Erfüllung versprechen, und einen guten Teil unseres kurzen Daseins beherzt der Verfolgung dieser Interessen zu widmen, gleichgültig, was andere davon halten mögen.

6. Übersteigertes Leistungsdenken bewirkt gewöhnlich, dass man große Ängste davor hat, Risiken einzugehen, Fehler zu machen und bei bestimmten Aufgaben zu versagen - Ängste, die einen ihrerseits daran hindern, jene Leistungen zu erbringen, die man erstrebt. Wer bei der Erfüllung einer Aufgabe zu stark mit sich selbst beschäftigt ist - meist eine Folge der Furcht vor dem Scheitern und dem damit verbundenen Gefühl der eigenen Wertlosigkeit -, wird a) fast immer außerstande sein, den geringsten Genuss aus seiner Beschäftigung zu ziehen, und b) nicht selten jämmerlich versagen.

Statt sich in unsinniger Weise ständig an die absolute Notwendigkeit zu erinnern, die Aufgaben und Probleme zu meistern, die einem das Leben stellt, wären folgende Verhaltensweisen vernünftiger:

(1) Statt sich mit dem Gedanken zu quälen, eine Aufgabe gut lösen zu müssen, sollte man sich darauf konzentrieren, sie zu lösen.

(2) Dabei sollte man versuchen, möglichst großes Vergnügen aus der Tätigkeit als solcher, nicht aus deren Ergebnis zu ziehen.

(3) Bemüht man sich um der eigenen Zufriedenheit willen, eine Sache gut zu machen, so sollte man nicht darauf bestehen, sie immer perfekt zu erledigen. in den meisten Fällen genügt es, das subjektiv, nicht das objektiv Beste zu leisten.

(4) Von Zeit zu Zeit sollte man die eigene Tätigkeit in Frage stellen und sich ehrlich eingestehen, ob man nach Leistung um ihrer selbst willen oder zur eigenen Zufriedenheit strebt.

(5) Wer eine Aufgabe bzw. ein Problem gut lösen möchte, sollte lernen, seine eigenen Fehler und Irrtümer willkommen zu heißen, statt entsetzt über sie zu sein und guten Nutzen aus ihnen zu ziehen. Er sollte die Notwendigkeit akzeptieren, sich auf jenen Gebieten, die er meistern möchte, durch Übung zu vervollkommnen, und sollte sich häufig zwingen, Dinge zu tun, bei denen er zu versagen fürchtet; und er sollte die Tatsache uneingeschränkt akzeptieren, dass der Mensch ganz allgemein ein beschränktes Wesen ist und dass auch er selbst notwendige und unübersehbare Grenzen hat.