Sektenausstieg: Der Odenwälder Wohnhof hilft Menschen aus einengenden religiösen Gruppierungen in ein normales Leben zurück

Die junge Frau mit den dunklen Haaren sitzt in sich versunken auf dem Stuhl. Sie vergräbt das Gesicht in ihre Hände, will nichts sehen, auch nicht gesehen werden. Sie will einfach nur ihre Ruhe. Mit Mühen hat sie sich gerade von einer Sekte losgesagt. Im Odenwälder Wohnhof hat sie Zuflucht gefunden, will hier lernen, ihren Alltag wieder selbst zu organisieren.

Die Einrichtung im abgelegenen Leibenstadt, einem Ortsteil von Adelsheim im baden-württembergischen Teil des Odenwalds, bietet Sektenaussteigern Gelegenheit, zurück in das Leben zu finden. Denn oft haben Menschen, die eine exklusive religiöse oder weltanschauliche Gruppe verlassen, alles verloren: Geld, Arbeitsstelle, Wohnung, Freunde, manchmal sogar die Familie, Werte, Glauben, Hoffnung und damit ihre Lebensperspektive.

Welcher Gruppierung die junge Frau angehörte, will Inge Marie Mamay nicht sagen, zum Schutz ihres Schützlings. Auch will sie nicht, dass einer ihrer Bewohner interviewt wird. Die Sozialpädagogin leitet seit März 1999 den Odenwälder Wohnhof für Aussteiger aus Sekten-, Kult- und Psychogruppen, eine weltanschaulich unabhängige Einrichtung, die als Modellprojekt vom Bundesfamilienministerium, vom Sozialministerium Baden-Württemberg und zunächst für drei Jahre von der Darmstädter Software AG Stiftung finanziert wird.

In den siebziger Jahren kam Inge Marie Mamay selbst zu den "Kindern Gottes", einer christlich-fundamentalistischen Sekte, riss sich jedoch kurze Zeit später los. „Der junge Mann, der mich für die ‚Kinder Gottes‘ werben wollte, gefiel mir“, erzählt die Neunundvierzigjährige. Doch das so genannte "Lovebombing", wenn die Werber einlullende Komplimente machen, wich bald enormem Drill, Freiheitsentzug und permanenter Bewusstseinsmanipulation: "Mein Ich entglitt mir, und ich wusste nicht wie."

Die Gefolgsleute des damaligen Führers der "Kinder Gottes", David Berg, der "Nachrichten vom lieben Gott" erhalten haben wollte, sprachen gezielt junge Menschen an. Inge Marie Mamay sollte betteln, um ihre Gemeinschaft, die mit 16 Personen in einer Fünf-Zimmer-Wohnung lebte, mitzufinanzieren. Heute leben die wenigen Mitglieder der ehemaligen „Kinder Gottes“, die sich jetzt "The Family" nennen, in Frankfurt von Sozialhilfe oder sind nach Asien ausgewandert – soweit Inge Marie Mamay weiß.

"Der Ausstieg war schwer, meine Mutter hat mich da herausgeholt, doch ich hielt noch lange emotional fest an dieser Gruppe – das ist wie bei einer verkorksten Liebesbeziehung", sagt Inge Mamay. Doch nachdem sie den Artikel eines Sektenbeauftragten über die "Kinder Gottes" gelesen und von den "Gehirnwäsche-Methoden" erfahren hatte, wurde ihr klar, was mit ihr passiert war. "Ich plumpste in die Realität zurück und wollte etwas tun, damit junge Menschen davor bewahrt werden, was mir widerfahren ist." Mit Anfang 20 gründete sie eine Wohngemeinschaft für Sektenaussteiger in Altenberg bei Köln. "Etwa 50 Aussteiger haben dort auf einmal gelebt, haben in Zelten geschlafen und kamen zum Teil aus Frankreich und den USA", erzählt Inge Marie Mamay. "Ich habe junge Erwachsene von der Straße geholt, fuhr nach Malta, Afghanistan und Indien." Ihre christliche Überzeugung war der Motor für ihr Engagement.

Nachdem das Projekt in Altenberg ausgelaufen war, studierte sie Sozialpädagogik und hatte beruflich mit Sekten nur noch am Rande zu tun. Doch ließ sie das Thema nicht los: "Ich habe es immer bedauert, dass es immer mehr Sektenbeauftragte gibt, doch keine Betreuung von Sektenaussteigern. Auch die Bundesregierung müsste mehr tun." Der Ausstieg aus einer Sekte dauere sehr lange, und bis ein Mensch dann wieder auf eigenen Füßen stehen kann, braucht er Hilfe.

Dieser Notstand motivierte sie, es 1993 noch einmal zu wagen. Nüchterner und mit weniger missionarischem Eifer als vor 25 Jahren sowie mit einer theologischen und therapeutischen Fortbildung nahm sie sich vor, zwei Jahre ihres Lebens zu investieren, um Aussteigern erneut eine Zuflucht zu bieten. Aus den zwei Jahren wurden sechs, bis sie das geeignete Haus, ein Pfarrhaus in Leibenstadt, fand. Ihr Konzept: Wenn ein Aussteiger einen anderen trifft, hat er schon neue Hoffnung auf ein Leben nach der Sekte. Viele hätten zahlreiche Therapien bei Psychiatern gemacht, doch der Kern ihrer Probleme sei dabei nicht angetastet worden. Dafür seien theologisch-seelsorgerische Gespräche nötig.

Mit 6000 Mark aus Spenden hat Inge Marie Mamay angefangen. Das Haus wurde mit Möbeln aus Haushaltsauflösungen bestückt, es entstand eine Atmosphäre zum Wohlfühlen. In den drei Jahren seit der Gründung haben Bewohner ihre Spuren hinterlassen. Ein Familienvater aus der Schweiz, der aus einer engen katholischen Gruppierung kam, hat ein kunstvolles Muster auf die Tapete gemalt, eine Frau, die mit ihrem Kind die Zeugen Jehovas verlassen hatte, ein Mosaik aus Fliesen an die Küchenwand modelliert.

Die religiöse und pseudoreligiöse Landschaft in Deutschland ist undurchschaubar. "Während es in den siebziger Jahren sechs Jugendreligionen gab, sind die Angebote heute viel verästelter," sagt Inge Marie Mamay. Damals war es modern, sich der Mun-Sekte, den "Kindern Gottes", Hare Krishna, Ananda Marga, Scientology oder der Transzendentalen Meditation (TM) anzuschließen. Die Sehnsucht nach Orientierung ist heute groß. Immer mehr kleine religiöse und weltanschauliche Gruppierungen wollen Sinnfragen beantworten, Gelegenheit bieten, sich daheim zu fühlen. Vor allem esoterische Strömungen breiten sich aus. Im Trend liegen auch so genannte Patchwork-Religionen, die verschiedene Elemente vermengen. Eine empirische Studie (veröffentlicht in "Report Psychologie" 10/1999) ergab, dass bei einem Großteil der Menschen, die sich einer exklusiven religiösen Gruppe anschließen, eine Prädisposition in Form einer problematischen Lebenssituation vorhanden sei.

Schon die Benennung der etwa 600 religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen in Deutschland ist schwierig. Fritz Huth, Beauftragter für Weltanschauungsfragen in der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau, lehnt den Begriff Sekte ab. Er verwendet ausschließlich den Begriff "religiöse Bewegungen". Sein Kollege bei der Kurhessen-Waldeckschen Landeskirche, Eduard Trenkel, behält den Begriff bei, da ein Betroffener im Telefonbuch am ehesten nach dem Stichwort "Sektenberatung" suchen würde. Olaf Stoffel, Leiter der Selbsthilfegruppe "Wenn Glaube krank macht", warnt davor, den Begriff "Sekte" als Kampfbegriff zu verwenden. Für ihn steht er für Gruppen mit destruktivem Kult, die Menschen ihr Selbstbestimmungsrecht nehmen.

Während die Enquetekommission des Bundestags den Begriff ablehnte, billigt das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung vom 26. Juni 2002 die Verwendung des Begriffs Sekte, der etymologisch "Abspaltung" bedeutet. Als Sekten bezeichneten sich ursprünglich philosophische Schulen, um ihre Lehren voneineinander abzugrenzen. Im religiösen Zusammenhang bedeutet Sekte die Abspaltung einer kleinen religiösen Gemeinschaft von ihrer Mutterreligion. "So gesehen wären die Christen eine jüdische Sekte und die evangelische Kirche eine katholische Sekte", so Huth.

Seine Arbeit besteht darin, über religiöse Bewegungen aufzuklären, Feldforschung zu betreiben und zu beraten. Werden die Bedürfnisse einer Person in ihrer Gemeinschaft befriedigt, könne man nicht grundsätzlich zu einer Loslösung raten. Oft sind Menschen gar nicht fähig, sich außerhalb ihrer gewählten Gruppe zurechtzufinden. "Ich halte die Scientology-Organisation für gefährlich. Alles mit Psycho-Methoden manipulieren zu wollen, ist Sciencefiction", sagt der Theologe. Während Scientology die Sekte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen sei, hält Huth die Esoterik für die Hauptströmung der Gegenwart. Sie durchdringe die alternative Heilszene (Edelstein-Therapie, Reiki) und verberge sich hinter Lebensberatungsangeboten.

Im Odenwälder Wohnhof haben Menschen aus den unterschiedlichsten Gruppierungen gewohnt. Nicht selten kamen sie mit depressiven Erkrankungen, Angststörungen oder Wahnvorstellungen. Ein Vater mit zwei Kindern kam hierher, nachdem er der Neuapostolischen Kirche, die mit 430.000 Mitgliedern als die größte klassische Sekte gilt, den Rücken gekehrt hat. Eine junge Frau war aus Scientology ausgestiegen. Auch ehemalige Satanisten hat Inge Marie Mamay beherbergt. Den Satanismus, die Teufelsverehrung, hält sie für die schlimmste Bewegung, da in Extremfällen Verbindungen zu Kinderporno-Ringen bestünden. Etwa 80 Prozent von 33 Anfragen beim Wohnhof innerhalb eines Jahres kamen von sexuell missbrauchten jungen Frauen aus satanistischen Gruppen.

Mit einem Team bestehend aus einem Psychotherapeuten, einer Sozialarbeiterin und einer Sekretärin betreut Inge Marie Mamay die Bewohner, die von einem Wochenende bis zu einem halben Jahr bei ihr bleiben können. Bis zu sechs Betten stehen im Wohnhof zur Verfügung. Kommen Menschen mit Angstzuständen, wird eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung gewährleistet. Das therapeutische Konzept ist der "gelebte Alltag". Die Betroffenen sollen spülen, putzen, aufräumen und dabei lernen, ihren Tag selbst zu strukturieren. Einmal in der Woche gibt es ein Gesprächsangebot mit dem Psychotherapeuten.

Der Schweizer aus der engen katholischen Gruppierung ging nach einem halben Jahr mit neuem Lebensmut in seine Heimat zurück. Er ist in einen anderen Ort umgezogen. Nun hofft das Wohnhof-Team, dass auch ihre derzeitigen Schützlinge, darunter die junge Frau, die ihre traumatischen Erfahrungen verarbeitet, bald wieder in ein normales, selbstbestimmtes Leben zurückfinden werden.