Wirft man einen Blick auf die Bundesrepublik der 70er Jahre, so rufen sich so einige Zeichen der Zeit in Erinnerung, die unter der Überschrift „Stimmen des Umbruchs“ passend platziert sind.

Zwar deuteten nicht nur in unseren heimischen Breitengraden die politischen Auseinandersetzungen eine angestrebte Trendwende an, aber hier habe ich sie doch aus aller nächster Nähe beobachtet, und das aus der Sicht eines Zeugen Jehovas heraus. Allerdings blicke ich nicht nur auf die „Ölkrise“, nicht nur auf die damit in Verbindung gebrachten, warnenden Worte des „Club of Rome“, der 1972 mittels seiner Studie „Die Grenzen des Wachstums“ die unangenehmen Seiten unseres künftigen Daseins prognostizierte, und auch nicht allein an die zunehmenden Gewaltaktionen, die uns so langsam aber sicher an das Wort „Terrorismus“ gewöhnen ließen.

Nein, ich erkenne in meinem Rückblick auch ganz deutlich die Führungsebene der Wachtturm- Bibel- und Traktatgesellschaft, die sich die einschlägigen Katastrophenschlagzeilen der Weltpresse, und die daraus ständig anwachsende, weltweite Unsicherheit, dankbar vor ihren eigenen Karren spannte. Die Miseren der damaligen Welt, sie puschten den internen „Feldzug“ der WTG eminent! Letzteres sollte mir erst später - viel später – bewusst werden. „Der Herrscher dieser Welt ist Satan!“, raunte es ehrfurchtsvoll durch die Königreichssäle unserer Republik, und „die Zeichen der Zeit des Endes!“ Wie auch immer, ich möchte anhand der Gedanken eines fiktiven Zeit-Zeugen - „Der Zeuge Bruder Demut!“ - genau die Stimmung weiterreichen, die mit Blick auf meine damalige Bruderschaft, für die 70er Jahre symptomatisch war, und die ein fester Bestandteil meiner Erinnerungen ist.

Ein Donnerstag im Dezember des Jahres 1971:

Bruder Demut kommt gerade aus der Zusammenkunft nach Hause und lässt sich in den bequemsten Sessel seines Wohnzimmers sacken. Krawattenknoten lockern und Fernsehgerät einschalten geschieht zeitgleich. Die just erscheinenden Nachrichten des Tages unterstreichen einmal mehr die Tatsache, dass sich das Leben auf unserem Erdenrund als zunehmend problematisch erweist. Betrübt? Nein! Warum auch? Das genaue Gegenteil ist der Fall! Jene Probleme bestätigen Bruder Demut die warnenden Worte des Sklaven, der die warnenden Worte Jesu, die er vor rundweg 2000 Jahren äußerste, auf das Heute - auf „seine“ Zeit - bezieht. Bruder Demut atmet spürbar erleichtert durch, nippt an dem Bier, das ihm seine Frau soeben gereicht hat. Die Welt - seine Welt - ist in Ordnung!

Bruder Demut wurde im Jahre 1900 geboren, und da er somit zu jener Generation gehört, die Zeitzeuge der ab dem Jahre 1914 weltweit zu verzeichnenden, außergewöhnlichen - wie der Sklave sagt! - Unruhen war, hat er einen berechtigten Grund zu der Annahme, dass er nicht sterben wird! „Die Generation, die 1914 bewusst miterlebt hat, die wird nicht vergehen!“, heißt es, und „Millionen jetzt Lebender werden nicht sterben!“ Was kümmern ihn ergo, ihn, den rund sieben Jahrzehnte alten Manne, die rasch anwachsenden Probleme, mit der sich unsere Mutter Erde konfrontiert sieht? Seine Sorgen und Ängste, die lagern auf einer anderen Ebene, auf einer ganz anderen, auf einer, die weit jenseits der Realitäten dieser Welt und ihrer Bürger ruht. Diese „Welt Satans“, die mit all ihren „Weltmenschen“ bereits zum Untergang verurteilt ist, die interessiert ihn nur am Rande; immer dann, beispielsweise, wenn wieder einmal die Nachrichten des Tages das zu bestätigen scheinen, was der von Gott erleuchtete Sklave der WTG als ein sicheres „Zeichen der Zeit des Endes“ angekündigt hat. So wie es jetzt momentan der Fall ist. Die Welt des Bruder Demut, ist wie gesagt in Ordnung!

Nicht allein aus diesem Grunde ist die Welt jenes Bruders in Ordnung. Nein, die Tatsache, dass ihm, in seiner Eigenschaft als ein Zeuge Jehovas, vermutlich ein Platz im Paradiese reserviert wird, ja dass seine Passivität, gegenüber den Belangen seiner Umwelt, somit plausibel wie ausreichend entschuldigt ist, dass alleine nährt und stabilisiert nicht seine Zuversicht. Die Ordnung - die „Neue Ordnung“ - von Bruder Demut ist wesentlich breiter gefächert. Er hält gewissermaßen, so kann man ohne jegliche Übertreibung sagen, ein „Rundum sorglos Paket“ in seinen Händen. Was interessiert ihn letztendlich der sogenannte „Kalte Krieg“ - was die Politik überhaupt? Ihm ist bekannt, wer der „König des Nordens“ ist und wer der „König des Südens“ ist ebenso, und welches Ende beide und wann zu erwarten haben, das liegt ebenfalls klar auf der Hand. In nur wenigen Jahren wird es für alle sichtbar werden, all seinen Nachbarn und Arbeitskollegen wird unlängst der Spott im Halse stecken bleiben. Jawohl! Harmagedon! Vieles deutet darauf hin, dass es 1975 bereits so weit sein wird!

„Heutzutage hat eine ‚weltliche’ Absicherung des Lebens keine Bedeutung mehr!“, sagt sich Bruder Demut, während er ein zweites Bier aus der Flasche ins Glas laufen lässt, „hört auf, euch Schätze auf der Erde aufzuhäufen, wo Motte und Rost... Der Sklave hat es oft genug betont, und genau aus dieser Erkenntnis heraus habe ich damals auch meinen Traum mit der ‚Meisterschule’ entgültig verworfen. Ein eifriger Verkündiger bin ich gewesen, habe exakt mein halbes Leben lang die ‚Verkündigung der guten Botschaft` in den Mittelpunkt gestellt.“ Das Umschalten der Fernseh-Kanäle wird durch ein sich abwechselndes Hell und Dunkel quittiert, das sich in dem Antlitz des Zeugen spiegelt. Selbst in dem nur spärlich beleuchteten Raum, wirken die Gesichtszüge des alten Mannes ermattet. Seine Gedanken klammern sich noch an den Tag, sind weiterhin mit dem einem Bein auf der Bühne des Königreichssaales, und mit dem anderen Bein inmitten des fast verstrichenen Abends. Letzteres, dieser Zwiespalt, ist ihm nicht fremd, nein, diese Situation ist ihm eine alte Bekanntschaft, eine, die ihn nunmehr seit Jahren - seit Jahrzehnten genaugenommen, regelmäßig einen kurzen Besuch abstattet.

„Ein Zeuge Jehovas hat sein Leben im Griff!“, Bruder Demut denkt fast hörbar in die Stille des Raumes hinein, „fest im Griff sogar!“ „Wir treten loyal für die ‚Wahrheit’ ein, meine Ehefrau und ich, und für die Familie unsere Sohnes gilt das ebenfalls!“ Das fein säuberlich auf dem Korkdeckel abgesetzte Bierglas hinterlässt einen weiteren, schmierig klebrigen Rand. „Unsere Familie ist nicht von ungefähr für jede dritte Demonstration auf der Bühne präsent, die Brüder wissen schon warum!“ „Meine Frau ist Pionier, unser Sohn, der nach dem Abitur ein Studium nicht in Erwägung zog, ist zusammen mit seiner Frau ebenfalls im Pionierdienst, deren beiden Kinder, meine Enkelkinder, lassen sich auf einem der nächsten Kongresse taufen, ziemlich sicher!“ Bruder Demut schaltet die Stehlampe ein und das Fernsehgerät aus. Das gelblich warme Licht, das sich übergangslos im Raume breit macht, ist gegen das leblose Grell der Leuchtstoffröhren, die den Versammlungsraum ausleuchten, eine Erholung. Ohne die Knoten der Senkel zu lösen, streift Bruder Demut seine schwarzen Schuhe von den Füßen. Doch, doch, seine Versicherung ist unbestritten die einzig wahre und somit die einzig richtige. Der Versicherer ist Gott! Der Sklave ist der Versicherungsagent! Was kann noch schief gehen? Nichts kann schief gehen! Die Welt, sie ist in Ordnung!

„Mein Glaube hat mich stark gemacht, das darf ich wirklich sagen!“ Die soeben dem Aktenkoffer entnommenen Zeitschriften der WTG werden schwungvoll und per Stapel auf den Teil des Tisches platziert, der offensichtlich sauber ist. „Gott hat noch immer für seine Treuen gesorgt, und jeder, jeder der nicht voll und ganz auf seine Hilfe vertraut, der bezeugt dergestalt seine Halbherzigkeit. Materialismus - eine der wirksamsten Fallen Satans!“ Der Schriftzug der zuoberst gelegenen Zeitschrift „Der Wachtturm“, baut ungefragt eine Brücke, die geradlinig jeden Gedanken des Raumes, hinein in die jüngst vergangen Stunden führt. „Sicherlich nicht grundlos wurde in der heutigen Zusammenkunft erneut darauf hingewiesen, dass wir zuerst nach dem Königreich trachten sollen!“ Halb aus dem Sessel erhoben, wägt Bruder Demut die Versuchung ab, sich ein weiteres Bierchen zu gönnen. Der alte Mann hat in der Tat zu seiner Überzeugung gestanden, zu Gott, seit seiner Taufe, die 1935, einige Jahre vor Beginn der 2. weltweiten Kriegswirren, erfolgte. Er hat es sich nie leicht gemacht, seine Liebe zu Jehova unter Beweis zu stellen, seine Treue zur Organisation, deren Anweisungen er uneingeschränkt folgte. Unter Tränen hatte er vor nur wenigen Monaten den Kontakt zu seiner Tochter abgebrochen, konsequent, nachdem sie noch im vorgeschrittenen Alter einen „Weltlichen“ - einen Katholiken - geheiratet hatte.

„Es ist schon eine Last, das heutige, verderbte System der Dinge.“ Glucksend fließt die Flüssigkeit in das Glas. Der müde alte Mann lenkt mit dem Zeigefinger das hochschäumende Nass in seine Grenzen. Das dritte Bier. „Nein, leicht habe ich es mir nicht gemacht. Augen zu und durch. Es wird auch langsam Zeit, dass die bösen Menschen vernichtet werden, dass der Sohn Gottes, unser König Jesus Christus, die guten erlöst. Harmagedon! 1975! 1975! Für mein Alter bin ich noch ganz gut drauf, ich müsste es schaffen. Ich darf nur nicht in eine von Satans Fallen tappen! Wir haben ja die Belehrung – haben die ‚Geistige Speise’ zur rechten Zeit.“

Bruder Demut nimmt einen der auf der Anrichte geordnet positionierten Bilderrahmen in die Hand. Der zum Verhältnis zur Rahmengröße kleine Ausschnitt zeigt das Portrait eines seiner Enkelkinder. Das Kind, ein Junge, hier vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, lächelt ihm aus dem versilberten, pompös wirkenden Rahmen entgegen. Das Bild in den Händen, streift sein Blick über die anderen Bilder. Hochzeitsphotos! Jeweils eins, das ihn mit seiner Frau- und eins, das seinen Sohn mit seiner Schwiegertochter zeigt. Erinnerungen, die rundweg vier - und anderthalb Jahrzehnte alt sind. Bilder von seinen Enkelkindern. Einschulung! Das sind noch verhältnismäßig frische Erinnerungen. Das Bild von seiner Tochter, es stand ganz links, mehr in Richtung Fernsehgerät, das hat der alte Mann der Sammlung entnommen. Nur wenige Tage, nachdem ihr das „Dienstkomitee der Versammlung“ die Gemeinschaft entzogen hat, hat er seine Tochter in die mittlere der fünf Schubladen eingelagert. Das tat er nicht gerne. Das tat er unter Tränen. Er weint auch jetzt. Wenn er es so bedenkt, dann hat er seit diesen Tagen tatsächlich ununterbrochen geweint, ja, am Tage nach innen, am Abend nach außen. „Das ist meine Prüfung!“, flüstert der alte Mann in die bedrückend laute Stille, „nur so kommt dieser Mensch zur Vernunft!“

Bescheidenheit zu üben ist noch nie sein Problem gewesen. Insofern bereut er es auch nicht, dass er es bei seiner eher kläglichen Rente belassen muss. Eine zusätzliche Altersversorgung, einen Notgroschen etwa, hat er nie in Erwägung gezogen, nein, nicht in dieser Zeit des Endes. „Wahre Christen haben da wahrlich eine andere Zielsetzung vor Augen, eine ganz andere!“ So denkt Gott sei Dank auch sein Sohn. „Erziehe einen Knaben gemäß dem Wege für ihn...“ „Es geht uns nicht schlecht. Wir haben doch alles was wir brauchen, und mehr sogar. An dem Spendenkasten, der im Saale steht, brauchen wir uns jedenfalls nicht unverrichteter Dinge vorbei schleichen. Die regelmäßige Gabe, für das weltweite Predigtwerk, die kam niemals zu kurz.“ „Verreisen - in den Urlaub fahren?“ „Da können wir in diesem System durchaus drauf verzichten. Wir konzentrieren uns mehr auf die anberaumten Kongresse der Gesellschaft, auf das dortige Zusammenkommen mit unseren Brüdern.“ Seine Zeit ist eingeteilt, und das auch ohne Urlaub. Die Zusammenkünfte, das Dienstamt - die Vorrechte in der Versammlung - und nicht zuletzt der Predigtdienst, all das kostet Zeit, will - ja muss - mit dem Studium der Bibel und dem Lesen der Literatur der Gesellschaft koordiniert werden. „Der Wettlauf!“, Bruder Demut stellt das Bild an seinen Platz zurück, „der Sklave hat schon Recht, auf das Ausharren kommt es an.“

„Zum ‚Werkmeister’ hätte ich es ganz zweifellos noch gebracht. Klar, das hätte sich auf meinen beruflichen Werdegang positiv ausgewirkt. Dann hätte ich vermutlich den ‚Schmidt’ ablösen können, unmittelbar, nach seiner Pensionierung. Die Direktion hatte es mehrfach, unmissverständlich angedeutet. Aus mir wäre dann bestimmt ein guter Schichtführer geworden, dessen bin ich mir sicher. Die letzten Jahre im Werk wären mir dann leichter gefallen. Klar!“ Bruder Demut greift zum Glas. „Hätte, hätte!“, er streift mit dem Zeigefinger den am Glasboden klebenden Untersetzer ab und trinkt, „ich habe mich eben anders entschieden, ganz anders, und das war auch gut so!“ Der Untersetzer liegt wieder an dem ihm zugedachten Platz; um ihn herum, in seiner unmittelbaren Nähe, haben sich leicht bucklige, klebrige Kreise gebildet. „Ich wurde aber im ‚Weinberg des Herrn’ gebraucht! Dringend sogar! Die Arbeit dort, und nur die, ist auf lange Sicht gesehen eine lohnende!“

Nahezu alle Aufgaben die die „Organisation“, die „Gesellschaft“, für einen Mann seines Schlages zu vergeben hat, hat Bruder Demut im Laufe seines Lebens wahrgenommen. Stets war er ein „Diener“. Gewissenhaft ist er all den „Vorrechten“ gerecht geworden, die man ihm übertrug. Hier waren es die „Hirtentätigkeiten“, innerhalb der Bruderschaft, und dort administrative- organisatorische Tätigkeiten. Den „Literaturtisch“ der Versammlung hat er ebenso gepflegt, wie die „Spülküche“ auf den Kongressen. Ein großer Redner ist er nie gewesen, nein, an das Sprechen, vor einer größeren Zuhörerschaft, herab von einer Bühne, hat er sich nie so recht gewöhnen können. Doch, ja, was das allwöchentliche Versammlungsgeschehen betrifft, so steht ihm da schon eine gewisse Routine hilfreich zur Seite, das ist mittlerweile erträglich, das kann man nicht anders sagen, aber die „Vorträge“, die Vorträge für die Öffentlichkeit, die bereiten ihm Probleme. Daran wird sich wohl nichts ändern. Sei's drum.

Ein weiteres Bild erweckt sein Interesse. Weiter links, in der Ecke, oberhalb des Fernsehgerätes, hängt ein in Holz gerahmtes Photo an der Wand. Das Bild, das sich in dem spärlich beleuchteten Raum nur schwer erkennbar von der bunten Tapete abzeichnet, zeigt in der Hauptsache ihn, ihn, zusammen mit seinem Sohn. Stehend, und nebeneinander, legen sie sich gegenseitig einen Arm auf die Schulter. Direkt vor den beiden Männern knien seine Enkelkinder. Alle lachen. Mit offenem Mund und weißen Zähnen, grienen sie fröhlich den jeweiligen Betrachter an. Die Aufnahme hat seine Frau gemacht, Sommer 1969, auf dem internationalen Kongress in Nürnberg, vor einem Cafeteria- Zelt. Links und rechts des Zeltes schreiten Menschen über einen grünen Rasen. Sie haben Plaketten angesteckt. Im Hintergrund sind weitere Zelteinrichtungen erkennbar. Darüber ein strahlend blauer Himmel. Er und die Kinder tragen die Plaketten am Revers der Anzüge, die seines Sohnes steckt an der Krawatte.

„Mein Sohn, der teilt meine Einstellung. Das ist jedem in der Versammlung bekannt! Seine Geradlinigkeit hat ihn zum Vorbild gemacht! Das ist kein Geheimnis.“ „Wie gesagt - erziehe einen Knaben gemäß dem Wege...“ „Architekt oder Bauingenieur wollte er so gerne werden! Nach dem Abitur hätte er durchaus studieren können. Das Zeug dazu hatte er - hat er immer noch! Das ließe sich mit seinem jetzigen Leben allerdings nicht mehr vereinbaren. Nein, natürlich nicht! Abgesehen davon, dass er eine Familie zu ernähren hat, hat er sich für den vermehrten Dienst als ein Pionier der WTG entschieden. Zusammen mit seiner Frau. Es gibt nichts, was er momentan Sinnvolleres tun könnte. Das wissen wir doch. Dazu seine Dienstvorrechte innerhalb der Theokratie, all das, in der Gesamtheit, lässt ihm keinen Freiraum für etwaige ‚weltliche’ Gepflogenheiten, geschweige denn für eine berufliche Neuorientierung.“

Sein Sohn steht fest in der Theokratie. Nicht nur diesbezüglich ist er das absolute Gegenteil seiner Schwester. Er wusste gleich wo es lang geht, hat sofort den „Weg des Lebens“ gewählt. „Anfangs ist es ein scheinbar recht schmaler Weg, der sich aber später verlässlich als erholsam breit erweist. Das ist verbürgt.!“ So seine Devise. Sein Vater war stets sein Vorbild. Sicher, er hatte auch andere Ideen, besonders als Heranwachsender, wir kennen das. Die Ängste und Nöte, die der Krieg mit sich brachte, überhaupt der ganze Trubel, die haben es diesem Menschen auch nicht gerade leicht gemacht. Ohne die „Wahrheit“ wäre er an dieser elenden Zeit gescheitert. Nur aufgrund der einleuchtenden Interpretationen der „Biblischen Prophezeiungen“, die seitens der „Gesellschaft“ - der „Organisation“ - an die wahrheitsliebenden, wahren Christen weitergereicht wurden, war dieses Elend zu ertragen. Politik und Kirche hat versagt. Gottes Zorn wird sie bald zur Rechenschaft ziehen!

„Um meine Enkelkinder mache ich mir keine großen Sorgen. Man sieht es ja, in welche Richtung sie gehen! Was sie nach ihrem Schulabschluss vorhaben, das steht noch nicht eindeutig fest. Für so junge Menschen und dann in der heutigen Zeit? Maximal Realschule, Handwerkslehre und dann - ab in den Pionierdienst! Nach Wiesbaden vielleicht? Die brauchen dringend handwerklich begabte Brüder! Die Welt geht mit riesigen Schritten ihrem Ende entgegen. Das weltweite Predigtwerk genießt Gottes Segen! Wo sonst, frage ich, wo sonst könnte sich ein intelligenter, gottergebener Mensch besser einsetzen, als im Weinberg des Herren? Man sieht es ja, wohin die heutige Jugend tendiert. Wie es die Bibel unzweideutig für die jetzige Zeit vorhersagt: Auflehnung, keine natürliche Zuneigung! Ungehorsam gegenüber den Eltern und Lehren - Anarchie und Terrorismus! Weltweit, und das ist erst der Anfang!“

Die Gedanken scheinen sich nun immer schneller im Kreise zu drehen. Normal, der Tag war anstrengend. Das lange Sitzen in der Versammlung, die Bestuhlung - das grelle Licht dort und nicht zu vergessen der Hin- und Rückweg, jene Umstände werden in der Summe auch nicht unbedingt einem betagten Menschen gerecht. Was soll's, es geht alles seinen gewohnten Gang, mehrfach die Woche, seit Jahren und Jahrzehnten. „Dessen ungeachtet ist es ein beruhigendes Gefühl, dass ich mir um die merklichen Gebrechen, meiner nunmehr rasch abbauenden körperlichen Verfassung, keine allzu großen Sorgen machen muss. Mit dem baldigen Abschluss dieses Systems der Dinge, werden diese lästigen Unvollkommenheiten dann endgültig der Vergangenheit angehören.“ Licht aus! Fast geräuschlos schließt er die Wohnzimmertür, tritt in den Flur. Auch der Rest der kleinen Wohnung liegt im Dunkel. Seine Frau hat sich bereits zur Ruhe begeben. Auf keinen Fall will er sie wecken. Die Welt ist in Ordnung!

(Die Handlung ist erdacht. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlich- oder einst lebenden Menschen wäre unbeabsichtigt und somit rein zufällig.)

Epilog:

Bruder Demut hat es erlebt, dass seine Ehefrau ab dem Jahre 1973, durch die Einnahme der „Symbole“ öffentlich kenntlich machte, dass sie sich zum Kreise der Menschen wähnte, die zusammen mit Jesus Christus im Himmel regieren werden.

Bruder Demut hat erlebt, dass die Menschheit nicht mit dem angekündigten Gottesgericht konfrontiert wurde. Das seitens der WTG angekündigte „Harmagedon“ kam weder im Jahre 1975, noch in den darauf folgenden Jahren seines Lebens.

Bruder Demut hat es erlebt, dass „seine“ Generation, die Generation die 1914 bewusst miterlebt hat, im Rahmen des durchaus natürlichen Werdeganges ebenso ausstirbt, wie zuvor all die anderen Generationen auch.

Bruder Demut hat erlebt, dass seine Frau im Jahre 1980 an den Folgen einer Altersleukämie verstirbt. Mit dem „Hinweis per Karte bezüglich Bluttransfusion“ in der Hand sicherten sie es gemeinsam ab, dass ein etwaiger Austausch ihres Blutes nicht in Frage kommt.

Bruder Demut stirbt im Jahre 1982.

Bruder Demut hat nicht erlebt, dass ab dem Jahre 1989 der Ostblock zerfiel, und sich im Jahre 1991 die Sowjetunion auflöste. Letzteres beendete abrupt die „König des Nordens- König des Südens- These“ der WTG.

Bruder Demut hat es nicht erlebt, dass man seinem Sohn im Jahre 1988 die „Gemeinschaft“ entzogen hat, weil er wiederholt – so das Rechtskomitee der Versammlung – einige Glaubenssätze der WTG öffentlich kritisierte.

Bruder Demut hat nicht erlebt, dass seine beiden Enkelkinder im Jahre 1990 endgültig den Kontakt zu ihrem Vater – seinem Sohn – abbrachen, weil sich dieser durch seinen Lebenswandel erkennbar von den Lehren der WTG distanzierte.

Bruder Demut hat nicht erlebt, das die WTG- Führungsebene, im Rahmen ihrer Bestrebungen den „Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts“ zu erlangen, Kompromisse mit genau den Glaubenssätzen macht, deren Relativierung nur wenige Jahre zuvor unweigerlich in einer Exkommunikation mündeten...

Zitate aus den 70ern

Ja, in den 70er Jahren, da war die Welt für einen Zeugen Jehovas – und zwar in all ihrer Unordnung! – geordnet. Mit einem Rückblick auf meine ehemalige Religionsgemeinschaft, muss ich ab und zu daran denken, wie verhältnismäßig leicht es sich doch, als ein Zeuge der Wachtturm-Bibel- und Traktatgesellschaft, in den besagten Jahren existieren ließ. Das kann man durchaus so hinterlegen! Für jene Menschen war das letztlich genau die Zeit, in der betreffs des Weltgeschehens, ja betreffs der damit im Zusammenhang stehenden ureigenen Zukunft, kaum Fragen unbeantwortet blieben, nein, eigentlich - genau genommen - nicht einmal eine einzige Frage.

Der Sklave der WTG hat damals wirklich keine Mühen gescheut, um einerseits die Geschehnisse der Vergangenheit mit der Gegenwart abzugleichen, und andererseits daraus dann wiederum einige bedeutungsvolle Prognosen für die Zukunft der gesamten Menschheit zu erheben. Da schon damals auf der Tätigkeit des Sklaven – er betont es bis dato ununterbrochen! - der Segen Gottes ruhte, sollten seine Darstellungen, aus Richtung der getreuen Anhängerschaft, mit keinem Zweifel bedacht werden. Letzteres geschah auch nicht.

Hier eine überschaubare Ansammlung an - wie ich meine - geeigneten Zitaten. Die Aussagen, die ich eher wahllos denn gezielt der Literatur der WTG entnommen habe, ist in diesen Jahren, mit frappierend gleichem Wortlaut, in nahezu jeglichem Schriftgut das aus dieser Richtung kam, an die geduldige Bruderschaft der Zeugen Jehovas weitergereicht worden. Gerade diese Doktrinen waren für die „Zeugen der 70er“ symptomatisch und weichenstellend.

Gemäß dieser zuverlässigen Bibelchronologie werden 6000 Jahre, von der Zeit der Erschaffung des Menschen an, mit dem Jahre 1975 enden, und die siebente Periode von eintausend Jahren Menschheitsgeschichte beginnt im Herbst des Jahres 1975 u.Z. (Buch: „Ewiges Leben in der Freiheit der Söhne Gottes“, 1967,  Kapitel 1, Seite 30, Absatz 41)

Auch Dean Acheson, ehemals amerikanischer Außenminister, erklärte wie im Jahre 1960 gemeldet wurde, wir würden in einer „Zeit beispielloser Unsicherheit und beispielloser Gewalttat“ leben. Er sagte warnend: „Ich bin über das, was vor sich geht, ausreichend unterrichtet, um mit Sicherheit sagen zu können, dass diese Welt heute in fünfzehn Jahren zu gefährlich sein wird, um darin zu leben.“

Diese Generation wird auf keinen Fall vergehen, bis alle diese Dinge geschehen...

Das bedeutet, dass das Ende bald kommen muss! (Buch: „Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt“, 1968,  Kapitel 1, Seite 9, Absatz 9 und Kapitel 11, Seite 94-95, Absätze 2-3)

Der Apostel Paulus war nicht jemand, der die unverdiente Güte Gottes angenommen und ihren Zweck verfehlt hätte. (2.Kor. 6:1) Er erkannte, daß er wirklich an einem Wettlauf teilnahm, bei dem der Preis das Leben war, und er war entschlossen, auf eine Weise zu laufen, daß er ihn erlangen könnte. „Daher“, sagte er, „laufe ich nicht aufs ungewisse.“ (1.Kor. 9:24-27) Vielmehr ‘streckte er sich nach den Dingen aus, die vor ihm waren, und jagte dem Ziel entgegen, dem Preis’. (Der Wachtturm 15. Januar 1970, „Machst du weiterhin Fortschritte?“, „Eine öffentliche Erklärung deines Glaubens ablegen“)

Im März 1918 erhielten wir eine ziemlich unverkennbare Antwort auf unsere Fragen. Ein öffentlicher Vortrag, betitelt „Die Welt ist am Ende, Millionen jetzt Lebender werden nie sterben!“, wurde weit und breit angekündigt. (Der Wachtturm, 1. Mai 1970, „Beharrlich auf Jehova warten“, „Beharrlichkeit in Prüfungen“)

Bist du noch jung? Wenn ja, warum dann dein Leben an das Streben nach sinnlichen Vergnügungen, nach Reichtum oder einer guten Stellung in dem gegenwärtigen System der Dinge, das bald vergehen wird, verschwenden? Warum dann so handeln wie die jungen Menschen in den Tagen Noahs, die nach den verkehrten Dingen strebten und deren Leben durch die Sintflut verkürzt wurde? Betrachte die Beweise, die zeigen, daß wir seit 1914 in den „letzten Tagen“ leben. (Der Wachtturm 1. Juni 1970, „Was bringt die Zukunft“, „Wunderbare Vorrechte für junge Menschen“ Abs.35)

Das stimmt auch mit den Worten Jesu überein, nach denen die Generation, die das Jahr 1914 und den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlebte, nicht vergehen soll, bis das Ende kommt. Gerechtigkeitsliebenden Menschen bleibt also nur noch eine kurze Zeit, um Gott zu beweisen, daß sie in seiner „Arche“ Schutz finden und die Segnungen des neuen Systems der Dinge erleben möchten. (Matth. 24:34-42., Der Wachtturm, 1. August 1970, „Ein Erntewerk unter allen Menschen“, „Eine kritische Zeit“ Abs. 5)

Christliche Anbeter Jehovas zögern heute auch nicht, von ihren Mitteln zu geben, um die reine Anbetung zu fördern. Sie bringen dadurch ihre Überzeugung zum Ausdruck, daß alles, was sie haben, von Jehova kommt und ihm gehört...

Ich bin schon in vorgerücktem Alter und kann dieses Geld sowieso nicht mitnehmen, wenn ich sterbe. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es auf eine bessere Weise verwendet werden könnte als zur Förderung der Verkündigung der guten Botschaft vom Königreich. (Der Wachtturm 15. August 1970, „Gib nicht zögernd, wenn du Gott Dank sagen möchtest“)

Nun kam die Zeit herbei, uns zu entscheiden. Wie würden wir uns wohl entscheiden? Ob wir uns wohl um den Pionierdienst bewerben würden, oder ob wir weiter an früheren Plänen festhalten würden, den Kindern eine „bessere“ Ausbildung zukommen zu lassen? (Der Wachtturm, 1. Oktober 1970, „Jehova sorgt für uns“)

Da nun bereits etwa 56 Jahre der Generation vergangen sind, die das Zeichen der „Zeit des Endes“ beobachten konnte, ist die Zeit bestimmt kurz. (Matth. 24:34) Wir müssen daher wählerisch sein. Wir benötigen eine zuverlässige Richtschnur, die uns entscheiden hilft, welches die wichtigeren Dinge sind, die Dinge, denen wir größere Aufmerksamkeit schenken sollten, und welches die weniger wichtigen sind, die, die wir immer weniger beachten sollten. (Der Wachtturm, 1. Dezember 1970, „Schule dein Wahrnehmungsvermögen“, „Den wichtigeren Dingen größere Aufmerksamkeit schenken“, Abs. 16)

Diese Handlungsweise der „Erde“ rief in der Tat einen heißen und einen kalten Krieg zwischen dem totalitären, autoritären „König des Nordens“ und dem demokratischen „König des Südens“ hervor, deren Vorwärtsbewegungen während der „Zeit des Endes“ in Daniel 11:27 bis 12:4 vorausgesagt werden. („Geheimnis Buch“ 1970, „Die Geburt des messianischen Königreiches Gottes im Himmel“, Kapitel 21, Abs. 59)

Würde ein Christ Gott gehorchen, wenn er mit dem Ausgeschlossenen den zwischen Verwandten üblichen Verkehr aufrechterhalten würde, obwohl dies nicht nötig wäre, da der Betreffende nicht in seinem Hause wohnt?

Wir müssen die Tatsache deutlich herausstellen, daß der Ausgeschlossene selbst schuld ist, wenn er die Gesellschaft seiner christlichen Verwandten nicht mehr genießen kann und sie ihn scheinbar schlecht behandeln. Sie halten sich dabei an Grundsätze, und zwar an hohe Grundsätze: an Gottes Grundsätze. Der Ausgeschlossene ist an seiner Lage selbst schuld, er hat sich selbst darein gebracht. Nun muß er die Konsequenzen auch tragen. (Der Wachtturm 1. Mai 1971, „Fragen von Lesern“, „Wie sollte sich ein gewissenhafter Christ einem Verwandten gegenüber verhalten, der nicht zu seinem Haushalt gehört und dem die Gemeinschaft entzogen ist?“)

Die göttlichen Grundsätze sind den Kindern nicht angeboren. Im Gegenteil, „Narrheit ist gekettet an das Herz des Knaben; die Rute der Zucht wird sie davon entfernen“. (Spr. 22:15) Möchte man falschen Neigungen entgegenwirken, so muß man Kinder schon von frühester Jugend an richtig erziehen. — Ps. 51:5.

Die Bibel gibt den Rat: „Erziehe den Knaben seinem Wege gemäß; er wird nicht davon weichen, auch wenn er alt wird.“ (Spr. 22:6) (Der Wachtturm 15. Mai 1971, „Familienstudium - ein Segen“, „Von frühester Jugend an“)

...Zum Beispiel ist öffentlich bekannt gegeben worden, dass im radikalen Lager die russischen Führer sagen, sie würden erwarten, bis zum Jahre 1975 die ganze Welt kommunistisch gemacht zu haben... (Der Wachtturm, 15. Oktober 1971, „Wenn alle Nationen frontal mit Gott zusammenstoßen“)

Die Hungersnöte, denen Millionen Menschen zum Opfer fallen werden — 1975 wird es wahrscheinlich soweit sein —, können nicht mehr abgewandt werden. Schon jetzt verhungert langsam eine halbe Milliarde Menschen, und eine weitere Milliarde ist unterernährt. (Traktat, Königreichs-Nachrichten Nr. 16 „Läuft die Zeit für die Menschheit ab?“, 1973)

Heute ist die Menschheit in einem beklagenswerten Zustand, und von manchen Seiten droht ihr Vernichtung; deshalb äußern viele, die die Gefahren, die für die Existenz der Menschen bestehen, eingehend erforschen und sich damit auseinandersetzen, schwerwiegende Zweifel daran, dass die Menschheit das Jahr 2000 u.Z. erleben wird... (Buch: „Gottes Tausendjähriges Königreich hat sich genaht“, 1973, Kapitel 1, Seite 12, Absatz 17)

In diesen Tagen ergehen an die übervölkerte Erde unheilvolle Warnungen vor einer Bevölkerungsexplosion und einer weltweiten Hungersnot, die schon im Jahre 1975 u.Z. eintreten könnte. (Buch: “Das Paradies für die Menschheit durch die Theokratie wiederhergestellt“, 1973, Kapitel 17, Seite 283, Absatz 1)