Als ich vor einigen Jahren, auf Wunsch des Gütersloh-Verlages, "Mein Leben als Zeuge Jehovas" schrieb, brachte ich eine lange Einleitung über den historischen Ablauf der Entwicklung der Wachtturm-Gesellschaft, von Anbeginn an.

Leider (aus meiner Sicht) meinte das Lektorat des Verlages, diese Darlegung sei von der Allgemeinheit der Leserschaft nicht gefragt. Ich sah und sehe das anders und veröffentliche daher hier, was ich damals an Material mühevoll zusammen trug. Es scheint bei den heute aufgeworfenen Fragen vielleicht am richtigen Platz zu sein, so hoffe ich es zumindest.

Fragt man einen Zeugen Jehovas, wie seine „theokratische Organisation“ geleitet wird, so antwortet er in der Regel etwa so: „Jehova selbst leitet sie durch Jesus Christus. Dieser aber bedient sich - seit den Tagen der Urkirche - einer leitenden Körperschaft (l. K.). Zwar endete diese theokratische Form der Führung seit dem Ableben der Apostel, doch seit der Wiederentdeckung „biblischer Grundwahrheiten“ durch C. T. Russell, den Gründer und ersten Präsidenten der Wachtturm-Gesellschaft (WTG), wird Gottes Volk wieder durch eine leitende Körperschaft „theokratisch“ geführt.“ Woher nimmt der Zeuge Jehovas diese Überzeugung? Sie wurde ihm seit seiner Unterweisung im Heimbibelstudium durch die Wachtturm-Schriften immer und immer wieder in der einen oder anderen Form näher gebracht, z. B. in der Ausgabe des Wachtturms (WT) vom 1.April 1977, Seite 206-208. Nachdem der WT zu zeigen versuchte, dass es schon in der Zeit der frühen apostolischen Gemeinden eine leitende Körperschaft gab, behauptet er ihre Wiedereinführung seit den Tagen C.T. Russells und ihr Fortbestehen über die Ära von Rutherford und der Präsidentschaft von N. H. Knorr hinaus:

In den vergangenen Jahren war die leitende Körperschaft der Klasse des 'treuen und verständigen Sklaven' stets eng mit der als Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania bekannten Körperschaft verbunden. Diese Körperschaft, die im Jahre 1884 zum erstenmal gesetzlich eingetragen wurde, kümmert sich um die wichtigsten Angelegenheiten der Zeugen Jehovas in der ganzen Welt. Ohne Zweifel war ihr erster Präsident, C. T. Russell, in der Zeit, in der den biblischen Grundwahrheiten unter Gottes treuen Anbetern auf der Erde wieder Geltung verschafft wurde, ein besonderes Werkzeug Jehovas. Dann, in den Jahren 1917 bis 1942, diente J. F. Rutherford als Präsident, und er kämpfte mutig gegen die Bemühungen der Christenheit, Gottes organisiertes Volk in Verruf zu bringen und es zu vernichten. Im Jahre 1942 setzte N. H.Knorr, der damalige Präsident der WTG, tatkräftig einen weltweiten biblischen Erziehungsfeldzug in Gang. Die administrative Tätigkeit dieser treuen Männer und ihrer Mitarbeiter in der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas ist von Jehova wunderbar gesegnet worden. (Der Wachtturm, 1.4.1977, S. 207, Abs.15)

Also: Russell, Rutherford, Knorr und Franz - jeweils in ihrer Zeit - Mitarbeiter in der leitenden Körperschaft? Grau, sagt man, ist alle Theorie. Es stellt sich nun die Frage: Wie sieht die Wirklichkeit aus?

In der Zeit des Gründers und ersten Präsidenten der WTG, C. T. Russell

Wer sich mit den WT-Schriften der Russell-Ära (Veröffentlichungen also zwischen 1879 und 1916) etwas gründlicher beschäftigt, als dies bei den einzelnen Zeugen Jehovas geschieht, wird überrascht sein: Russells Schriften erwähnen, weder direkt noch indirekt, so etwas wie eine „leitende Körperschaft“. Und das hat darin seinen Grund: Die heute ihr zugeschriebenen Leitungsfunktionen fallen nach Russells Sicht in die Zuständigkeit der örtlichen „Versammlung“, die ihre Ältesten selber wählen sollten und keiner Zentralgewalt unterworfen war. Russell sah in einem solchen Zentralismus die Gefahr, es könnte sich zwischen Gott und der Gemeinschaft eine „irdische Macht schieben“. Diese Gefahr, der z.B. nach übereinstimmender Auffassung aller protestantischer Christen entschieden zu widerstehen ist.
Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung. (1. Timotheus 2:5, 6)

Demgemäß schrieb Russell Anfang 1914 in dem von ihm redigierten WT:
Jede Versammlung des geweihten Volkes des Herrn ist völlig frei und sollte unabhängig für sich selbst den Glauben an die Bibel und alle die kostbaren Wahrheiten derselben haben... Die Glieder der Herauswahl unterstehen niemandes Autorität, als nur derjenigen des biblischen Bischofsamtes oder der apostolischen Lehrer, was die Ältesten und Diener (Diakone) betrifft, so sind diese von der Versammlung in Übereinstimmung mit den Weisungen der Bibel aus ihrer eigenen Mitte zu wählen. Keine irdische Macht hat ein Recht, sich zwischen die Verordnungen der von Gott eingesetzten 12 Apostel und die Gemeinde der Kinder Gottes zu schieben, die sich in Übereinstimmung mit den Weisungen der Apostel versammelt. (Der Wachtturm, Jahrgang 1914, Seite 23)

Im Unterschied zu den heutigen Wachtturmschriften, in denen gerne die Heilsnotwendigkeit der Organisation mit dem Hinweis auf solche Versammlungen begründet wird, bestritt Russell jede Notwendigkeit einer zentralistischen Organisation:
...bis jetzt ist sie [die Kirche] noch nicht vollkommen und darum auch noch nicht organisiert. Wenn sie organisiert sein wird, wird sie mit Macht bekleidet, nicht eine Demokratie, sondern eine Herrschaft, nicht eine Republik, sondern ein Königreich sein ...

Russell ist überzeugt, dass jedes „Organisieren“ der Kirche und jedes „gebieterische Regieren“ letztlich doch nur nach „Art und Weise der Welt“ geschähe. Wörtlich schreibt er:
Auch existiert eine solche Organisation, die mit göttlicher Autorität angetan ist, heute überhaupt noch nicht ...Die Kirche Gottes ist noch nicht organisiert ... In dieser freiwilligen Vereinigung gibt es keine gebietende Autorität über andere, und kein Herrschen über Gottes Erbteil sollte gestattet sein; denn der eine Herr hat uns die Instruktion hinterlassen: ,Ihr aber, laßt euch nicht Rabbi nennen, denn einer ist euer Lehrer, ihr alle aber seid Brüder' (Matth.23,8). Anstelle des königlichen und gebieterischen Regierens, das doch nur nach Art und Weise der Welt geschehen würde, hat uns der Meister eine andere, entgegengesetzte Regel... gegeben. (Der Wachtturm, Jahrgang 1908, S. 104 ff)

Den auch heute immer wieder erhobenen Einwand, die wahre Christengemeinde brauche doch eine Organisation und deren Leitung um der Einigung und Einheit willen, begegnet Russell mit dem Hinweis auf die frühen christlichen Gemeinden des ersten Jahrhunderts:
Es war eine Vereinigung des Geistes: das Gesetz des einzelnen war die Liebe, während sie als ein Ganzes unter dem Gehorsam gegen das ´Gesetz des Geistes´ standen, wie es in dem Leben, den Worten und Taten ihres Herrn und Meisters zum Ausdruck kam. Ihre Leitung war der Wille dessen, der da sprach: ´Liebet ihr mich, so haltet meine Gebote´“.

Im gleichen Artikel erinnert Russell an die sektiererischen Entwicklungen in der Kirchengeschichte und an jene falsche „Einheit“, bei der „man versuchte, alle Kirchenmitglieder auch in dem kleinsten Lehrpunkt einerlei denken zu machen“. Das war in keinem Fall die Einheit, die der Apostel Paulus anstrebte, so betont Russell. Er empfahl vielmehr die Einigkeit im Geiste, im Herzen, in der Gesinnung, eine Einigkeit, die als ein natürliches Resultat der rechten Übung der Freiheit, die wir in Christo haben, von selbst entspringt. In einer solchen freien Vereinigung von Christen, wie sie Russell vorschwebte, und wie er sie bei den damaligen „Bibelforschern“ zu realisieren versuchte. Da ist natürlich für eine autoritär herrschende „leitende Körperschaft“ kein Raum. Genauso wenig ist diese im Neuen Testament begründet. Wer hier auf das „Apostelkonzil“ (Apg.15) verweist, widerlegt sich selbst, denn der Bericht in der Apg. des Lukas sowie die Kommentierung durch den Apostel Paulus (Gal. 2,1-16!) zeigen deutlich: Die Apostel - weit davon entfernt, autoritär zu herrschen - mussten selbst noch um den rechten „Kurs“ ringen.

C.T. Russell und die Direktoren der 1881 von Russell gegründeten „Wachtturm Gesellschaft“ (1884 gesetzlich eingetragen) bildeten keineswegs eine „leitende Körperschaft“ wie die heutige WTG behauptet. Im WT vom 1.4.1972, Seite 216 heißt es:
Wie die Tatsachen zeigen, kam es zu einer Verbindung der leitenden Körperschaft mit der Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania. Russell gehörte damals, im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts, offensichtlich der leitenden Körperschaft an.

Das sah C. T. Russell selbst jedoch ganz anders. Raymond Franz, früheres Mitglied der „leitenden Körperschaft“, schrieb nach seinem freiwilligen Ausscheiden aus der „1. K.“ und seinem Bruch mit der Wachtturm-Organisation sein Buch „Der Gewissenskonflikt“, und zitiert darin aus Russells „Letztem Willen und Testament“, veröffentlicht am 1. Dezember 1916 im englischen WT. Darin erklärt Russell (§ 2):
Jedoch im Hinblick auf die Tatsache der Schenkung der Zeitschrift, ZIONS WACHTTURM, den SCHRIFTSTUDIEN und verschiedenen anderen Broschüren etc. an die Watch Tower Bible and Tract Society, tat ich dies mit dem ausdrücklichen Verständnis, daß ich die volle Kontrolle aller Interessen dieser Publikationen Zeit meines Lebens haben würde, und daß sie nach meinem Hinscheiden gemäß meinen Wünschen weitergeführt werden sollen. Hiermit lege ich die besagten Wünsche dar - meinen Willen hinsichtlich derselben - wie folgt ...

Russell beanspruchte also „die volle Kontrolle“ für seine Person! Nicht für eine Körperschaft! Wie Russell all die vorangegangenen Jahrzehnte die Rechtslage angesehen hatte, so auch jetzt in seinem Testament. Raymond Franz dazu: Obwohl er [also Russell] die Wachtturm-Zeitschrift der Körperschaft schenkte (1884), betrachtete er sie klar als seine Zeitschrift, die auch nach seinem Tode gemäß s e i n e m Willen veröffentlicht werden sollte. Die Schlussfolgerung des ehemaligen „1. K.“-Mitglieds Franz ist eindeutig:
Eine Person ist keine Körperschaft! Somit zeigen die Tatsachen, daß es zu Russells Lebzeit, also bis 1916, nicht einmal den Anschein einer leitenden Körperschaft gab. Die einzige Körperschaft, die Russell nannte und kannte, war die von ihm selbst gegründete Watch Tower Bible and Tract Society!

Dieser Rückblick – im Vergleich zur Darstellung der WTG heute – zeigt deutlich, daß diese Gemeinschaft oft größte Schwierigkeiten hat, ihre eigene historische Entwicklung, wahrheitsgemäß darzustellen.

Russell als Prophet

In einem Buch (vergriffen) des Wiener Historikers Franz Stuhlhofer über den Gründer der WTG, wird bereits im Titel deutlich, dass schon in ihrer frühen Geschichte die Unehrlichkeit nicht nur einkalkuliert, sondern auch praktiziert wurde. Im genannten Buch: „Charles T. Russell und die Zeugen Jehovas“ Untertitel: „Der unbelehrbare Prophet“, weist Stuhlhofer nach, dass Russell bereits den Samen für die spätere Überschätzung der Organisation legte.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass „Pastor“ Russell immer mehr überzeugt war, ein besonders bevorrechteter „Seher“ zu sein, der viel mehr sah und erkannte als alle Theologen, Exegeten und Reformatoren der vergangenen Jahrhunderte. Neben Lehren, die er anhand der Bibel widerlegen konnte, baute er ein „Lehrgebäude“ auf, das nichts anderes als ein Konglomerat von menschlichen Ansichten und (oft aus dem Zusammenhang gerissenen) Bibeltexten war. Es wäre ein nutzloses Unterfangen, wollte man jetzt noch all die Quellen, aus denen er schöpfte, ausfindig machen. Was Russell begonnen hat, setzte die von ihm gegründete WTG unbeirrt fort, ausgenommen zweckdienliche Änderungen, die dann als „neues“ oder „fortschreitendes“ Licht deklariert wurden und werden.

Unverrückbare „biblisch“ errechnete Daten bilden einen Mittelpunkt, um den sich künftig bis zum heutigen Tag alles dreht. Imaginäre „Tatsachen“ wurden derart hochstilisiert, dass sie als „die Wahrheit“ schlechthin gilt, diese abzulehnen oder auch nur anzuzweifeln, führt unweigerlich in die „endgültige Vernichtung“ in der seit mehr als hundert Jahren „unmittelbar bevorstehenden Schlacht von Harmagedon“. Ohne Unterlass werden die WTG Anhänger mit „biblischen“ Voraussagen in Atem gehalten, von denen allerdings bis dato keine einzige durch wahrnehmbare Tatsachen bestätigt wurde. Dennoch fühlen die ZJ sich beleidigt, wenn man Russell und seine Nachfahren als „falsche Propheten“ bezeichnet.

Der 1852 in Allegheny, Pennsylvania, geborene Russell beschäftigte sich schon im Alter von 16 Jahren mit religiösen Fragen, erhielt aber keine theologische Ausbildung. Für seine spätere Entwicklung war in den 1870er Jahren maßgeblich eine adventistische Splittergruppe verantwortlich. Menschen mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein, können sich nicht lange in einer Gruppe ein- bzw. unterordnen. Russell trennte sich nach Meinungsverschiedenheiten von seinen Mentoren und nahm von diesen einige Auslegungen und besonders die Leidenschaft für „biblische“ Berechnungen mit. Trotz aller Fehlschläge hörte Russell zeit seines Lebens nicht auf, unerfüllte Vorhersagen hinzubiegen und sie mit „neuem Leben“ zu erfüllen. Gänzlich zu Recht nennt Stuhlhofer Russell einen „unbelehrbaren Propheten“. Russell grenzte sich von alten „überkommenen“ christlichen Formen ab er legte den Grundstock für das „Wir Denken“ „wir“ haben die Wahrheit; „wir“ haben das Licht — alle anderen sind draußen, „in der Finsternis“ usw.

Als Sohn eines Textilkaufmanns hatte er das nötige Kleingeld, um eine eigene Zeitschrift veröffentlichen zu können. Vor 120 Jahren, im Jahre 1879, konnte er dann seine Erkenntnisse, Berechnungen und Lehren, in der genannten Zeitschrift „Zion´s Wachtturm“ unters Volk bringen. 1881 gründete er die „Watchtower Tract-Society“ (WTG). Mit ihren Zeitschriften und Büchern, wurde der religiöse Markt – der besonders in den USA einen gesunden Nährboden hatte und heute noch immer hat – überschwemmt.

Von Anfang an, hielt die WTG ihre Anhänger mit Voraussagen, verbunden mit heilsgeschichtlichen Daten, in Atem. Gingen aber seine Prognosen auch in Erfüllung?

Da seine Nachfolger, wider besseres Wissen, in diesem Fahrwasser weiter schwammen, müssen auch sie sich, wie Russell selbst, die Bezeichnung „falsche Propheten“ gefallen lassen. Allein in Russells „Schriftstudien“ wimmelt es von Spekulationen. Als ich einige davon zum ersten Male las, wusste ich nicht, sollte ich mich ärgern oder laut lachen.

Manipulierte Bibel, manipulierte Anhänger

Seit Gründung der WTG werden die Anhänger getrimmt, alles kritiklos zu schlucken. Dann ist es ein Leichtes diese zu vereinnahmen, sie gefangen zu nehmen und sie sogar zu versklaven. Das wird so gekonnt vollzogen, dass sie sich dabei als befreite Menschen fühlen. Auf diese Weise wird es möglich jegliche „Alarmfunktion“ auszuschalten.

Eigentlich hätten bei den Lesern des WT vom September 1910, sämtliche Alarmglocken schrillen müssen. Hier wurde deutlich, welcher „Geist“ Russell leitete. Über seine Bücher und ihren hohen Wert schrieb er:
Wenn man die sechs Bände der 'Schriftstudien', praktisch die Bibel, thematisch geordnet mit den Zitaten der biblischen Beweistexte vergleicht, dann ist es nicht unangebracht, diese Bände „die Bibel in thematischer Ordnung“ zu nennen. Das heißt, es handelt sich nicht einfach um Bibelkommentare, sondern sie sind praktisch die Bibel selbst. Da nicht die Absicht besteht irgendwelche Lehren oder Gedanken auf jemandes persönlicher Weisheit oder bevorzugten Ansicht aufzubauen, ist alles durch die Zeilen des Wortes Gottes zu belegen. Wir glauben daher, daß es sicherer ist, dieser Art des Lesens, der Unterweisung und des Bibelstudiums zu folgen. Außerdem beobachten wir nicht nur, daß es nicht möglich ist, durch selbständiges Bibelstudium den göttlichen Plan zu erkennen, sondern wir bemerken auch, daß jemand, der die 'Schriftstudien' weglegt - selbst wenn er sie 10 Jahre lang gelesen hat, aber sie dann weglegt - und sie nicht mehr berücksichtigt und sich allein der Bibel zuwendet, sich innerhalb von zwei Jahren in der Finsternis befindet. Hätte er auf der anderen Seite lediglich die 'Schriftstudien' mit ihren Hinweisen gelesen, aber als solches keine einzige Seite der Bibel, würde er sich nach zwei Jahren im Licht befinden, denn er hätte das Licht der Schriften.

Dreister geht es nicht mehr. Man glaubt Goethes Dr. Faustus sprechen zu hören. In solch verführerischer Weise hat Russell seine Anhänger zu Nachbetern seiner Ideologie gemacht. Nicht mehr galt das „sola scriptura“ (allein die Schrift) eines Luther und anderer bibeltreuer Männer. Jetzt sind die Ergüsse Russells wichtiger als die Bibel. Statt die Suchenden zu Christus zu führen, machte man sie zu Sklaven menschlicher Phantastereien. Russell begann, „Jünger hinter sich her wegzuziehen“ (Apg.20,30). Binnen kurzem war Russell zu einer „Ikone“ geworden, auch seine WTG.

Wie hält man Menschen zusammen?

„Einheit“ ist das Zauberwort. Das fordert Gleichschritt und Uniformität. Die Anhänger werden dabei in eine Schablone gepresst und schrittweise geistig entmündigt. Die Formel für einheitliches Zusammenleben heißt in der WTG: Anerkennung der „Organisation“.

Ist Organisation grundsätzlich etwas schlechtes? Keineswegs! Jeder physische Körper ist doch ein Organismus und das ist auch Organisation. Wirken Organe harmonisch zusammen, dann arbeiten sie zusammen, bricht ein Organ aus, dann beginnt das Chaos, wie im Fall einer Krebserkrankung. Auch eine Gemeinschaft braucht organisatorische Strukturen. Wird sie jedoch zu viel von einer Einzelperson oder Führerschaft beherrscht, dann mutiert sie zur Diktatur, in der das Individuum verkümmert. Das zeigen viele Beispiele aus der Geschichte der Religion und der Völker. Russells Initiativen vor 120 Jahren waren überhaupt nicht neu. Jahrhunderte zuvor spielte sich ähnliches ab. Schon im 2. Und 3. Jh. gab es phantasiebegabte Männer, die ihren Schutzbefohlenen verschiedenste Ansichten und „christliches“ Brauchtum überstülpten. Um nur ein Beispiel zu nennen: „Kompendium der Kirchengeschichte“ von Karl Heussi, § 18:
Der Ausbau der frühkatholischen Kirche [2. u. 3. Jh.]:

„In dieser Zeit gelangte die Entwicklung des Gottesdienstes zu einem relativen Abschluß. An die Stelle der urchristlichen, völlig freien und regellosen Gemeindeversammlungen ist nun ein kompliziertes Gefüge heiliger Handlungen getreten, die in feststehender Ordnung feierlich vollzogen werden. Mit dem Aufkommen des Opferbegriffs ist als sein notwendiges Korrelat der Priesterbegriff in die Kirche eingedrungen. Die Leitung der gottesdienstlichen Versammlung, einst ein „Dienst“ an der Gemeinde, ist schon längst das ausschließliche Vorrecht des Klerus geworden. Die magisch-sakramentalen Vorstellungen haben im Laufe der Zeit immer größere Bedeutung gewonnen; zu Abendmahl und Taufe haben sich noch weitere heilige Zeremonien gesellt. Mit dieser Wandlung des Gottesdienstes aber hat sich eine spezifisch kultische Frömmigkeit ausgebildet, die sich immer ausschießlicher in dunkeln, mystischen Gefühlen bewegt. Was die Theologie lehrt, die Erlösung aus dem Todesverhängnis und die Vergottung des Menschengeschlechts, das läßt der Kultus den Christen erleben: in der Eucharistie fühlt der Gläubige in mystischen Schauern göttliche Kräfte in sich einströmen. Diese Entwicklung des Kultus hat sich unter starker Einwirkung der heidnischen Mysterien vollzogen.

Obwohl Russell und seine Umgebung keine Gelegenheit ausließen, die lästige Konkurrenz – d.h. Kirchen und Gemeinschaften - scharf zu kritisieren, hatten sie selbst in kürzester Zeit vieles von dem Kritisierten in Wort und Tat nachvollzogen. Dazu benötigten ihre Vorläufer Jahrhunderte.

Das scheinbar bessere Verstehen und Interpretieren des Bibelinhalts vermittelte dieser Gruppe das Gefühl, ein besonderes Maß des Heiligen Geistes - exklusiv – erhalten zu haben. Die Wurzeln für das Elitedenken waren gelegt.

Beginn unzähliger Endzeitberechnungen

Für Russell war der Gott der Bibel „Jehova“, ein Vermittler von Zahlenbotschaften. Bei bestimmten Ereignissen, die in der Bibel schon vor Jahrhunderten aufgezeichnet wurden, war auch – wie er immer annahm - der Schlüssel für eine Berechnung gelegt, die sich tausende Jahre später erfüllt. Er glaubte diesen Schlüssel zu besitzen. Da konnte er mit Jahreszahlen operieren die teilweise in der Vergangenheit, in der Zukunft, und sehr viele in seiner unmittelbaren Gegenwart lagen. Er „sperrte“ mit Feuereifer all die verborgenen „Schlösser“ auf. Andere Christen hatten keinen Zugang dazu.

Dabei steht in der ganzen Rechnerei ein Datum im Mittelpunkt, das auch von den ZJ heute sehr beachtet wird – es ist das Jahr 1914. Im 3. Bd. von Russells „Schriftstudien“ mit dem Titel „Dein Königreich komme“, S.116, waren die Jahre 1799 und 1874 noch „überwältigende Beweise“ für die „Zeit des Endes“ und für die „Wiederkunft Christi“. Diese Ansichten vertraten die ZJ noch bis in das Jahr 1929, dann ließen sie die „Zeit des Endes“ jedoch ins schon gut eingeführte Jahr 1914 hinüber gleiten. Das Jahr 1799 und 1874, mit all den falschen „Beweisen“, verschwanden in der Versenkung und gerieten gezielt in Vergessenheit.

Um ein objektives Bild von den Anfängen der WTG bis heute zu bekommen, ist die Sicht zum Jahr 1914 signifikant. Vor allem was die WTG daraus macht. Gerade hier begegnen wir dem Phänomen, dass es eine christliche Religionsgemeinschaft schafft, sich so darzustellen, als wäre sie nur der Wahrheit verpflichtet. Das Ergebnis: die eigene Geschichte wird verschleiert und verdreht. Interessant ist aber auch ihre persönliche Einschätzung:
Schätzt du den „treuen und verständigen Sklaven“?

EINE ÜBERWÄLTIGENDE LEGITIMATION

Der „treue und verständige Sklave“ verfügt über eine Fülle von Legitimationsausweisen. In der nachstehenden Liste wird ein Teil der biblischen und prophetischen Bezeichnungen aufgeführt, die sich seit 1919 auf den Überrest der gesalbten Nachfolger Jesu Christi beziehen. (WT, 1.3.1981, S. 27)

Da wird nicht „vermutet“, da ist nichts „wahrscheinlich“, nein, da werden im Brustton totaler Überzeugung „Tatsachen“ festgelegt so ist es! und damit basta. Das ist eben „die Wahrheit“! Diese Art der Beeinflussung ist aber typisch für viele Sekten. Doch halt! Ist denn die WTG, oder die „Zeugen Jehovas“, eine Sekte? Handelt es sich hier nicht um böswillige Unterstellungen ihrer Abtrünnigen und Gegner?

Nun wollen wir die Datenkonstruktionen verlassen und zuerst einmal untersuchen, welche Art von Gruppe, oder Gemeinschaft, damals entstand.

Definition des Sektenbegriffs durch C.T. Russell

Solange eine Gruppe klein ist, kann sie auf feste Strukturen verzichten. Da treffen sich die Anhänger noch ganz zwanglos. Werden „göttliche“ Ziele – wie bei der WTG - angestrebt, dann kommen Aufgaben auf die einzelnen Sympathisanten zu. Funktionen werden übernommen, Funktionäre werden geboren. Zusammenkünfte müssen organisiert, Treffpunkte festgelegt, Räume gemietet werden. Redner halten Ansprachen, es wird gesungen und gebetet, kurz: eine Organisation ist entstanden. Es wird geplant und organisiert, Aufgaben werden zugeteilt. Das alles ist nichts verwerfliches. Auch der WTG kann niemand das Recht absprechen, eigene Meinungen zu haben, sie zu äußern oder drucken zu lassen. Kommen in Programmen und Zielen jedoch fragwürdige Erklärungen vor, dann sollte Misstrauen einsetzen. Etwa die unqualifizierten Beweise für eine alleinige Führung durch Gott Jehova. Wer selbst Kriterien für seine Legitimation festlegt, macht sich verdächtig, in Vermessenheit zu behaupten von Gott legitimiert zu sein. Wer das tut, muss sich gefallen lassen, besonders kritisch unter die Lupe genommen zu werden. Wenn Exegesen und Verständnisfragen – nicht das ausdrückliche Wort Gottes – zu Prüfsteinen werden, an denen sich die Echtheit christlicher Nachfolge entscheidet, dann ist die Gruppe unweigerlich zur „Sekte“ geworden. Daher ist die Definition Russells zum Begriff Sekte sehr aufschlussreich. Es folgen Zitate aus seinem Buch „Dein Königreich komme“, 1904, S. 173.

Da heißt es einleitend, dass „jedermann der sich irgendeiner dieser menschlichen Organisationen anschließt“ auch deren Glaubensbekenntnis als das seine annimmt. Damit beginnt eine „freiwillige Knechtschaft und sie lassen andere für sich denken“. Wenn sie das nicht tun wollen, müssten sie aus der Sekte wieder austreten. Das erfordert jedoch „Gnade und kostet einige Anstrengungen“. Die in der Sekte sagen dann von diesem, er sei ein „Verräter oder Unbeständiger“. Dann schreibt er wörtlich:
Wenn man sich einer Sekte anschließt, so wird erwartet, dass man sich der Sekte gänzlich ergibt und nicht mehr sich selbst gehört. Die Sekte unterscheidet nun für ihn, was Wahrheit und was Irrtum sei; und er muss, um ein wahres, zuverlässiges, treues Glied der Sekte zu sein, deren spätere wie frühere Entscheidungen über alle religiösen Fragen annehmen, seine eigene Meinung übersehen und persönliche Nachforschungen vermeiden, da er sonst an Erkenntnis wachsen und als Glied der Sekte verloren gehen könnte. Diese Sklaverei einer Sekte und einem Glaubensbekenntnis gegenüber wird oft mit soundsovielen Worten bezeichnet, wenn man sagt, dass ein solcher zu einer Sekte gehört…

Er geht weiter ins Detail und spricht von „Fesseln und Ketten“ derer sich das Sektentum bedient.

Wie würde Russell rückblickend – er starb 1916 - seine eigenen Schriften und die Struktur „seiner“ heutigen Gemeinschaft beurteilen? Diese sitzt am hohen Ross und genießt eine Ausnahmestellung, sie sind sogar „einzigartig“, laut WT vom 15.1.1992, S. 24:
JEHOVAS ZEUGEN sind in vielerlei Hinsicht einzigartig. Nur sie sprechen die „reine Sprache“ (Zephanja 3:9). Nur sie bilden eine Einheit und weisen das Unterscheidungsmerkmal auf, das Jesus Christus beschrieb: die Liebe (Johannes 13:35). Und nur sie genießen die Freiheit, die gemäß den in Johannes 8:32 aufgezeichneten Worten Jesu Christi die Wahrheit mit sich bringt.

„Nur sie...“, solche Sätze sprechen für sich. Traurig ist nur, dass dies von WT-Artikelschreibern und dem Großteil ihrer Leserschaft geglaubt wird. Ich gehörte einige Jahre auch zu solch „Gläubigen“...

Zurück zum besonderen Jahr 1914. Was „prophezeite“ Russell? Für ihn stand fest: bis 1914 läuft das „christliche Zeitalter aus“ und dann findet die Schlacht Gottes, „Harmagedon“ (aus Offenbarung 16), statt. Wir wissen heute, dass nichts zutraf. In keinem der Bücher Russells, kündigte er etwa einen weltlichen Krieg an, von einem „Weltkrieg“ ganz zu schweigen. Wie reagierte Russell und wie seine Nachfolger?

Der „falsche Prophet“ muss gestehen

Als 1914 nichts geschah, was Russell in seinem Wunschdenken erhoffte, sah er sich gezwungen klein beizugeben. Aber man beachte nun die Art des „Rückziehers“. Im Vorwort der Neuauflage seines Buches „Die Zeit ist herbeigekommen“ (Ausgabe 1926, S. 7), musste der „Prophet“ bekennen:
Der Autor gibt zu, dass er in diesem Buch den Gedanken nahe legt, dass des Herrn Heilige erwarten dürfen, am Ende der Zeiten der Nationen bei ihm zu sein in Herrlichkeit. Dies war ein Fehler, den zu machen sehr natürlich war, doch der Herr überwaltete ihn zum Segen seines Volkes. Der Gedanke, daß die Kirche vor Oktober 1914 in Herrlichkeit vereint sein würde, übte zweifellos einen anspornenden und heiligenden Einfluß auf Tausende aus, von demgemäß alle den Herrn preisen können selbst um des Fehlers willen.

Anstelle einer offenen und ehrlichen Entschuldigung für die falschen Voraussagen, wurde mit beispielloser Unverfrorenheit das Fiasko in einen Gottessegen verkehrt! Gibt es im Bibelbericht irgendwo einen Hinweis, dass Gott (Jehova) sich irgendwelcher Falschvoraussagen bedient, um sie dann in einen „Segen“ für sein Volk zu verwenden?
Wehe denen, die sagen, daß Gutes böse sei und Böses gut sei, denen, die Finsternis als Licht hinstellen und Licht als Finsternis, denen, die Bitteres als Süßes hinstellen und Süßes als Bitteres! Wehe denen, die in ihren eigenen Augen weise sind und sogar vor ihrem eigenen Angesicht verständig! (Jesaja 5:20, 21)

Ist die heutige WTG ehrlicher als Russell?

Sind die Nachfolger Russells aufrichtiger, oder zumindest klüger geworden? Man beachte wie die WTG die Ereignisse um 1914 heute darstellt. Auszug aus dem Jahrbuch der ZJ 1974, S. 79:
Der bis dahin mörderischste Krieg der Menschheitsgeschichte war ausgebrochen, ein Krieg, den Historiker zum erstenmal als einen „Weltkrieg“ bezeichneten. Für viele kam der Krieg wie ein Blitz aus heiterem Himmel, und genauso plötzlich wurden die Spötter zum Schweigen gebracht... Sie [die „Bibelforscher“] hatten diese Ereignisse erwartet, ja nicht nur das, sie hatten sie im Auftrage Jehovas anderen angekündigt... Die Zeitungen triumphierten schon und brachten einen Schmähartikel nach dem anderen über die wahrhaft Gläubigen, die für 1914 den Weltuntergang prophezeit hatten. Damals standen wir in einem heftigen Kreuzfeuer. Aber durch Gottes Güte und Macht vermochten wir allen Anfeindungen zu widerstehen... Nun waren wir in den Augen unserer Gegner auf einmal die größten Propheten geworden.

Da werden in der WTG aus falschen, plötzlich die „größten“ Propheten, wie ist das nur möglich?

Die Frage nochmals gestellt: sind die Nachfolger Russells wenigstens klüger geworden? Sein unmittelbarer Nachfolger als Präsident der WTG, der „Richter“ Rutherford, blieb jedenfalls im gleichen Fahrwasser. Auch er war ein „biblischer Rechner“, natürlich mit Fehlresultaten.

Beginn der autoritären Struktur

An die Stelle der von Russell betonten „freiwilligen Vereinigung“, in der es „keine gebietende Autorität geben sollte“ (weil das ja doch nur „nach Art und Weise der Welt geschehen würde“), trat nun die vom „Richter“ straff geführte „theokratische Organisation“, nach Art und Weise dieser Welt. Zu dem Zweck setzte die WTG seit 1922 den gewählten Ältesten in den Versammlungen jeweils einen „Erntewerksvorsteher“ vor die Nase. Diesem stellte sie einen Bücherverwalter und einen Kassenführer zur Seite. „Auf diese Weise hat jede Versammlung stets einen kompetenten Vertreter der Gesellschaft in ihrer Mitte“, räsoniert der WT von 1922, Seite 143. Von nun an wird natürlich nicht mehr demokratisch gewählt, sondern „theokratisch“ eingesetzt, „von oben nach unten“.
Die Versammlung schlägt vor, und das Bibelhaus wählt. Der Erntewerksvorsteher verbleibt solange in diesem Dienste, als das Bibelhaus ihn darin beläßt. (Der Wachtturm 1923, S. 239)

Wie jeder ZJ weiß, nahm „die Gesellschaft“ den Versammlungen später auch noch das Recht, selber die Vorschläge zu unterbreiten. Statt dessen besorgt dies bis auf diesen Tag der „Beauftragte der Gesellschaft“, der Kreisaufseher, anlässlich seiner „Dienstwoche“, die er in der Orts-Versammlung durchführt. Doch eine perfekte Diktatur kann sich nicht mit organisatorischen Änderungen begnügen; vielmehr sucht sie auf Gesinnung und Glauben der einzelnen unmittelbar Einfluss - und Macht - auszuüben. Darum konnten vom Jahre 1926 an, die im Auftrag der WTG reisenden Beauftragten, damals noch „Pilgerbrüder“ genannt, nicht mehr frei entscheiden. In ihren Rundschreiben „an alle lieben Pilgerbrüder“ vom 22.9.1926, spricht Rutherford sogar von einer Forderung.
Weil unsere verschiedenen direkten und indirekten Bitten in der Vergangenheit nicht beachtet wurden... Unsere Forderung, liebe Brüder, ist nicht mehr und nicht weniger, als daß alle Pilgerbrüder sich ohne Ausnahme bei ihren Ausführungen immer mehr an den Stoff, wie er im Wachtturm gebracht wird, halten möchten.

Somit ist das heutige „Wachtturmstudium“ das Werk des Diktators Rutherford! Bis heute gilt auch bei den Zeugen Jehovas als Dauerregel, was der damalige Rundbrief den „lieben Pilgerbrüdern“ mehr fordernd als fördernd ans Herz legte. Sie seien:
...nicht dazu da, eigene Auslegungen zu bringen, sondern ihre vornehmste Aufgabe ist, den Geschwistern zu helfen, die Darlegungen des Wachtturms zu verstehen. Alles aber, was sich auf entgegengesetzten Bahnen bewegt oder meint, Dinge bringen zu müssen, die dem Wachtturm voraus sind, ist eine Gefahr und kann nur dazu beitragen, die Geschwister zu beunruhigen...

Und die Begründung für diese Festlegung auf die eine Quelle der Wahrheitsfindung? Sie lautet in dem Rundschreiben:
Das Werk des Herrn ist ein Ganzes, und die Belehrungen, die der Herr seinem Volke gibt, kommen aus einer Quelle, dem Wachtturm.

Hatte Russell noch erklärt, die Kirche werde dereinst (nämlich nach ihrer Verherrlichung bei Jesu Wiederkunft!) „mit Macht bekleidet“ und d a n n „keine Republik, sondern ein Königreich sein“, keine Demokratie, sondern eine Theokratie, so wollte Rutherford dies alles schon hier und jetzt. Der Gipfel seiner Herrschaftsansprüche findet sich in der Zeitschrift „Consolation“ (Trost), dem heutigen „Erwachet!“, vom 4.9.1940, wo es auf Seite 25 heißt:
Die Theokratie ist die verheißene Administration der Angelegenheiten der Erde durch Jehova Gott, den Schöpfer, durch den für diesen Zweck gesalbten König, Christus Jesus. Jene Theokratie ist jetzt auf Erden in Funktion. Die Theokratie wird in der Gegenwart geleitet durch die WATCH TOWER BIBLE AND TRACT SOCIETY, von der Richter Rutherford der Präsident und Chefmanager ist!

Die Gesellschaft und ihr Präsident! Doch von einer leitenden Körperschaft fehlt immer noch jede Spur. Auf der gleichen Seite dieser Zeitschrift erscheint eine Besprechung des damals gerade neu erschienenen Buches Rutherfords: „Religion“, in dem der Autor „die Botschafter der Theokratie“ aufruft:
Die theokratische Regierung marschiert triumphierend voran. Tu deinen Anteil daran mit Freuden!

Spätestens an dieser Stelle, kann man den Einwand heutiger ZJ hören:
Was redet ihr so viel von den Entwicklungen damals, als ja das ´Licht´ noch nicht so hell sein konnte. Entscheidend ist doch, daß Jehovas Zeugen heute eine leitende Körperschaft haben, die das Werk Gottes auf Erden leitet.

Eine leitende Körperschaft heute? Was ist denn nun anders geworden seit der Präsidentschaft Russells und Rutherfords? Man könnte meinen, mit den im WT vom April 1977 angekündigten Neuerungen sei eine Wandlung - von der Präsidialdiktatur zu einer Art kollektiver Führung - eingetreten. Damals hob der WT vor allem dies hervor:
Um dem Bedürfnis nach weiterer Ausdehnung gerecht zu werden, wurde im Jahre 1971 die Zahl der „älteren Männer“, die als leitende Körperschaft dienten, von sieben [das sind die Direktoren der Watch Tower Society] auf insgesamt elf erhöht.

Die damalige zahlenmäßige „Aufstockung“ des Wachtturm-Direktoriums bedeutete keine wirkliche Abkehr von der Alleinherrschaft des WTG-Präsidenten. Ab sofort hatte der „Richter“ alle Schäfchen gut im Griff.

Weitere „biblische“ Voraussagen

Es wurde ab 1916 fast jedes nachfolgende Jahr mit irgend einer Verheißung „bemüht“, aber Rutherfords denkwürdigstes Jahr ist 1925. Zunächst war 1918 vergangen, es erfüllte sich nicht das vorausgesagte „göttliche Gericht“. Auch 1920 wurden keine Königreiche und Republiken „durch Revolution und Anarchie verschlungen“, wie weltweit prophezeit. Dafür kommt 1925, oder davor, „die große Krisis“. Der WT vom Januar 1923, S. 15:
Das Jahr 1925 ist sogar noch schärfer von der Schrift gekennzeichnet, weil es festgelegt ist durch das Gesetz, welches Gott dem Volke Israel gab.

Die „Beweise“ waren nun keineswegs mehr so dürftig wie früher, sondern 1925 ist in der „Schrift“ (der „Heiligen“ wohlgemerkt!) noch deutlicher angezeigt, so hieß es immer wieder. 1920 schrieb Rutherford eine Broschüre mit dem verheißungsvollen Titel: „Millionen jetzt lebender Menschen werden nie sterben“. Solche Aussagen sprechen viele Sterbliche an und hatten entsprechende Wirkung. Darin (S. 80) kommt es ganz dick:
Eine einfache Berechnung dieser Jubeljahre bringt uns zu dieser wichtigen Tatsache: Siebenzig Jubeljahre zu je fünfzig Jahren würde uns die Gesamtzahl von 3500 Jahren bringen. Da diese Zeitperiode 1575 vor dem Jahr 1 beginnt, würde sie notwendigerweise im Herbst des Jahres 1925 zu Ende gehen, zu welcher Zeit das Vorbild endet und das grosse Gegenbild beginnen muss.

1925 würden also treue Männer des A.T. und andere „Würdige“ zur Erde - durch Auferstehung - zurückkehren. Das wurde den Anhängern weis gemacht.

Die WTG-Spitze glaubt an ihre eigene Botschaft

Hier erhebt sich schon die Frage, glauben denn diese Leute was sie sich ausdenken? Diese Frage stellte ich einmal den ehemaligen „Zweigaufsehern“ der WTG von Österreich, sowie von Belgien/Luxemburg – Walter Voigt und Maurice Fleury. Beide gaben spontan die Antwort, dass sowohl Russell und Rutherford, wie auch die späteren Präsidenten der WTG, an ihre „Sendung“ glauben.

In den 1920er Jahren machte sich Rutherford echte Sorgen, wo die zu erwartenden Auferstehenden künftig wohnen werden. Deshalb kaufte er (natürlich nicht von seinem Geld) eine große Villa für Abraham und die anderen „alttestamentlichen Überwinder“ – klarerweise in USA - wo denn sonst? Da gab es natürlich Spott von außenstehenden Beobachtern. Aber diese würden sich gehörig täuschen – meinte er in seinem Buch „Die neue Welt“, S. 104:
In dieser Erwartung ist im Jahre 1930 in San Diego, Kalifornien, ein Haus gebaut worden, über welches die religiösen Feinde in der breiten Öffentlichkeit böswillig vieles geredet haben. Es trägt den Namen "Beth-Sarim", was "Haus der Fürsten" bedeutet. Zur Zeit wird es als Wohnstätte für die zurückkehrenden Fürsten verwaltet. Die jüngsten Geschehnisse zeigen, dass die Religionisten der gegenwärtigen, dem Untergang geweihten Welt wegen des Zeugnisses, das durch dieses "Haus der Fürsten" für die neue Welt gegeben wird mit den "Zähnen knirschen". Diese Religionisten und ihre Bundesgenossen wird es nicht freuen, dass jene treuen Menschen der alten Zeit zurückkehren um nach Recht und Gerechtigkeit über das Volk herrschen.

Andere Christen wurden damals geringschätzig als „Religionisten“ bezeichnet. Diese würden mit den „Zähnen knirschen“, dachten der selbsternannte Prophet. Vielleicht ist diesen „Religionisten“ nach der neuerlichen Pleite, jedes Lächeln vergangen, war das ganze doch eher zum Weinen. Wie mir ZJ-Augenzeugen berichteten, sind viele Bibelforscher damals in schwarzer Kleidung zu den Friedhöfen gepilgert, um dabei zu sein wenn die „Alten“ auferstehen. „Abrahams Villa“ diente später Rutherford als Heimstätte. Weder Abraham noch Isaak leisteten ihm dort Gesellschaft. Fleury erzählte mir, dass sich nach dem Tode Rutherfords, in den 1940er Jahren, der Verkauf der Villa äußerst schwierig gestaltete. Der Grund? Im „weltlichen“ Grundbuch waren als Eigentümer nämlich Abraham & Sohn eingetragen...

Wie die WTG falsche Prophezeiungen verarbeitet

Wie wurde das Problem solcher „Altlasten“ später aufgearbeitet? Im Jahrbuch der WTG 1980, S. 63 druckten sie Sequenzen ab, die für sich sprechen:
Ein Anzeichen für diese Prüfung war eine Fragestunde, die Bruder Rutherford auf einem Kongreß in Basel abhielt, der vom 1. bis 3. Mai 1926 stattfand. In dem Bericht über diesen Kongreß hieß es:

„Frage: Sind die Alttestamentlichen Überwinder schon auferstanden?

Antwort: Sicherlich sind sie noch nicht auferstanden. Niemand hat sie gesehen. Es wäre töricht, eine gegenteilige Behauptung aufzustellen. Im Millionen- und Trostbüchlein wurde gesagt, daß man sie vernünftigerweise kurz nach 1925 erwarten dürfe. Aber dies wurde nur als Meinung ausgesprochen.“

Man hatte einen Fehler gemacht, doch wie Bruder Rutherford erklärte, war dies kein Grund, aufzuhören, dem Herrn zu dienen. Einige taten dies dennoch, und so gab es in dieser Zeit weitere Sichtungen im französischen Gebiet.

Zuerst sind es „Tatsachen“, die später – siehe oben – in eine „Meinung“ umgewandelt wird. Dazu kam noch der „Vorteil“, dass gleich eine „Sichtung“ erfolgen konnte. Also hinaus mit allen Kritikern! Dass dabei mit Menschenschicksalen jongliert wurde, sei nur am Rande bemerkt. Es ist überhaupt ein Wunder, dass in der heutigen aufgeschlossenen Zeit, solche Gemeinschaften am Leben bleiben können und nicht sofort wieder von der Bildfläche verschwinden.