„...und wenn wir uns täglich nur wenige Minuten dem Wort Gottes widmen...“ mit solchen, oder ähnlich lautenden Parolen umzäunt die „WTG“ nur allzu gerne den Freiraum der ihr vertrauenden Menschen, ja reduziert die Organisation der Zeugen Jehovas die Freiheit des Individuums auf das absolute Minimum!

„Da hast du nicht ganz Unrecht, so kommen wir nie auf einen gemeinsamen Nenner.“ Nachdenklich lege ich das Telefon an seinen Platz zurück.

„Du siehst die Sache nicht mehr mit den Augen eines Menschen, der sich für den Rest seines Lebens Jehova hingegeben hat. Das muss letztlich jeder für sich ganz alleine entscheiden, wo er innerhalb der Organisation stehen möchte. In dem Punkt haben wir eben eine unterschiedliche Auffassung!“ So in etwa hatte er gerade argumentiert.

Nicht immer enden die Gespräche mit meinem Freund in dieser Weise. Nicht etwa, dass ich es als ungewöhnlich erachte, wenn zwei Freunde gegensätzliche Meinungen vertreten, aber gewöhnlich ist diese Thematik kaum noch Bestandteil unseres Gesprächsstoffs. Warum auch, wir sind uns, was das erforderliche Engagement bezüglich der anberaumten Aktivitäten innerhalb unserer Christenversammlung betrifft, unserer stark voneinander abweichenden Ansichten bewusst. Wir meiden das Thema möglichst. Außerdem stellt für Gespräche solcher Art, eine Telefonverbindung auch nicht unbedingt das geeignete Umfeld dar, und da mein Freund beständig über sehr wenig unverplante Zeit verfügt, reduzieren sich die Möglichkeiten der Kommunikation eben zwangsläufig auf die seltenen Telefonate, die wir miteinander führen.

„Sehr wenig unverplante Zeit“, genau darum ging es in dem gerade beendeten Gespräch. „Das ist wirklich kein Wunder, dass du gereizt und nervös bist. Du hetzt doch nur noch von einem Termin zum anderen“, gab ich zu bedenken. „Deine ewigen Magengeschichten solltest du als eine ernste Warnung verstehen, sie sprechen eine deutliche Sprache!“

Vermutlich kommen wir diesbezüglich tatsächlich auf keinen gemeinsamen Nenner, mein Freund und ich. Allem Anschein nach sind deshalb unsere beiderseitigen Toleranz-Schwellen sehr unterschiedlich, und zudem, jeweils auf den anderen bezogen, deutlichst überschritten worden. Letzteres, zumindest in dem Punkt unserer Gleichung müssten wir uns eigentlich einig sein, aus ziemlich genau entgegengesetzten Richtungen. Wie dem auch sei, Argumente haben wir beide.

Ich vertrat den Standpunkt: „Ein Mensch von über fünfzig Jahren, der einen relativ anstrengenden Beruf ausübt und längst nicht mehr zu den Gesündesten gehört, sollte sich einen Freiraum gönnen, der ihm eine angemessene Regeneration ermöglicht. So ein Mensch dürfte und sollte sich eine geregelte Wiederauffrischung seiner Körperkräfte leisten, eine Wiederherstellung der ihm möglichen Kraft und Stärke, die für eine vernünftige Bewältigung seines Berufs– und Privatlebens ausreicht. Kraft, die ihm genügend Energiereserven für seine persönliche, individuelle Freizeitgestaltung übrig lässt, Kraft, die ihm nicht zuletzt die benötigte Energie für die erforderlichen christlichen Aktivitäten (das eine muss das andere ja nicht zwangsweise ausschließen) bereithält.“

Er hielt dem entgegen: „Wir leben nun einmal in der ‚Zeit des Endes’. Das Leben ist anstrengend. Das was wir für die Versammlung, für die Organisation tun, leisten wir für Jehova. Wer sich in dem Werk verzehrt, wer sich aufopfert, sollte sich vor Augen halten, dass er nicht für das jetzige ‚System der Dinge’ lebt, sondern für ein zukünftiges Dasein, ein von Gott geplantes, besseres Leben. Jehova fordert einen rückhaltlosen Einsatz von seinen Zeugen und er wird die, die treu ausharren, mehr als reichlich belohnen.

Persönliche Freiräume, individuelle Freizeitgestaltungen, etwa zeitaufwendige Hobbys, spielen im heutigen Leben eines Christen unumstritten eine untergeordnete Rolle. Für mich sind es keine ‚Termine’ zu denen ich ‚hetze’, sondern ‚Versammlungsbesuche’ die mich aufbauen, die mich stärken, ja die ich benötige!“

Ja, und bedingt durch diese unterschiedlichen, stark voneinander abweichenden Ansätze verzweigen sich unsere Pfade, die wir auf dem Weg zu dem gemeinsamen Ziel verfolgen.

Ein und derselbe Bestimmungsort, eine und dieselbe Endstation, wirklich exakt identische Ziele, und doch grundsätzlich verschiedene Vorstellungen von den nötigen Verhaltensweisen, die das Erreichen der angestrebten Ankunft in Aussicht stellen.

Unsere differente Definition der „erforderlichen christlichen Aktivitäten“ verhindert ein gemeinschaftliches Gehen. Unser beider ungleiches Abgrenzen, zwischen dem was Gott von einem Christen an rückhaltlosem Einsatz fordert, und dem was er einem Christen an Freiraum für eine angemessene Regeneration schenkt, ja vermutlich sogar dringlichst empfiehlt, lässt keine harmonische Kooperation zu. Daran scheint sich in absehbarer Zeit nichts zu ändern. „Ein“ Ziel, nämlich als ein Zeuge Gottes, gemäß der Bibel nach christlichen Maßstäben zu leben, und doch völlig gegensätzliche Wege der Durchsetzung.

„Wenn wir uns zu einem Treffen verabreden wollen, hast du in der Regel keine Zeit, bist schon für die kommenden Wochen mehr als gebunden. Eine Verabredung scheitert fast immer mit den gleichen Begründungen. Entweder du bist an den besagten Tagen in der Versammlung, oder du musst dich noch auf irgendeine ‚Aufgabe’, mit der dich die Versammlung betraut hat, versteht sich, vorbereiten!“ Hatte ich ihm gesagt. „Die nur wenigen Stunden, in denen dich dein Beruf nicht fordert, saugt konsequent das auf, was du für deine ‚Theokratischen Pflichten’ hältst. Du siehst auch keine Möglichkeit einen Teil der dir anvertrauten Aufgaben einem anderen Bruder deiner Versammlung zu übergeben, nein, weil (du selber weist ständig auf den Umstand hin) eben jeder von ihnen mit seinen eigenen ‚Ämtern’ stark ausgelastet ist!“

Mein Freund ist seit Jahrzehnten verheiratet. Sie haben, obwohl beide sehr kinderlieb, keine Kinder. Kinder waren nie geplant gewesen, wurden von vornherein nicht in der Planung ihres Lebensweges berücksichtigt. „Nicht in dieser Welt!“ Hieß es. „Später, in der ‚Neuen Ordnung’, haben wir doch unendlich viel Zeit für Nachwuchs und Familie.“

Pioniere, Sonderpioniere und Missionare waren sie gewesen.

Sie hatten, von frühester Jugend an bis zum Alter das man „die besten Jahre“ nennt, getreu den Weg, den die Organisation der Zeugen Jehovas als den wertvollsten Dienst für Gott anbietet, an den unterschiedlichsten Orten des In – und Auslandes geduldig beschritten. Um der umfangreichen Aufgabenstellung gerecht werden zu können, haben sie schon frühzeitig ihre berufliche Tätigkeit aufgegeben, lebten bescheiden von dem wenigen Geld, das die „Gesellschaft“ den von ihnen Gesandten zahlt. Bedingt durch Krankheiten, sind die beiden erst nach vielen Jahren in ihre Heimatstadt zurückgekehrt und dort sesshaft geworden. Nach gut einem Jahrzehnt, beendete der Gesundheits-Zustand, in dem sie sich befanden, ihre Laufbahn als Missionare der Zeugen.

Sie, seine Frau, hat auch nach der endgültigen Rückkehr bis dato ein Berufsleben ausgeklammert, widmet sich weiterhin, wenn auch in der reduzierten Variante, dem Predigtdienst als ein eifriger Pionier der Versammlung.

Er hat im Anschluss wieder eine „weltliche Tätigkeit“ aufgenommen. Arbeitet ganztags, fünf bis sechs Tage in der Woche, für den Lebensunterhalt der kleinen Familie. Leider nicht in seinem gelernten Beruf, oh nein, in dem boten sich, letztlich aufgrund seines fortgeschrittenen Alters, nicht die geringsten Einstiegsmöglichkeiten mehr. Aber beschwert, beschwert hat er sich nie. Warum auch, sein Lebensweg verlief, mit wenigen Ausnahmen, genau so wie er von ihm geplant wurde, entsprach in der Vergangenheit genauestens seinen Vorstellungen von dem Weg, den er sich vorgenommen hatte zu gehen. Der Beruf war für ihn immer eine Nebensache. Das ist weder das Ergebnis einer diesbezüglichen Resignation oder gar Bequemlichkeit, noch hat es etwas mit einer angeborenen Ignoranz gemeinsam, im Gegenteil, jedoch in seiner momentanen Situation akzeptiert er seine Erwerbstätigkeit als eine notwendige Beschäftigung, als eine Lohnarbeit, die letztendlich die Versorgung, ebenfalls in Hinblick auf die über Jahre vernachlässigten Einzahlungen für eine Rente, der beiden sichert.

Er „dient“, wie es so schön heißt, in seiner Versammlung als ein „Ältester“, gehört also zu den Männern, die innerhalb der Gemeinschaft für den reibungslosen Ablauf des seitens der Gesellschaft vorgegebenen Programms sorgen. Das beachtliche Engagement eines solchen Ehrenamtes, die offizielle Bezeichnung lautet „Dienst-Amt“, beinhaltet nicht nur die Beaufsichtigung der strikten Protokollabarbeitung, sondern setzt auch den eigenen Einsatz als aktiver Teilnehmer voraus. Diese Tätigkeiten, obwohl sie sich fast von alleine aus einer Routine heraus zu modulieren verstehen, sind mit einem äußerst hohen Zeitaufwand verbunden. Der Dialog, den ich vor nur wenigen Minuten führte, spricht für sich selbst. Es kündigte sich bereits verholen an, dass ein beabsichtigtes Treffen zwischen unseren beiden Familien wiedereinmal so gut wie jeglicher vernünftigen Basis entbehrte.

„Wie sieht es denn in der übernächsten Woche bei dir aus ... am Freitag- oder Samstagabend der übernächsten Woche?“ Das war meine Frage.

„Geht leider nicht. Freitags haben wir doch immer um die Zeit Versammlung. An dem Samstag leite ich morgens den Treffpunkt für den Predigtdienst, und bin dann in den frühen Nachmittagsstunden mit den Brüdern zu einer Ältesten- Besprechung im Saal verabredet. Abends müsste ich mir den Vortrag noch einmal durchlesen, den ich am darauffolgenden Sonntag halten werde. Tut mir leid, aber du siehst, es klappt nicht.“

„Und das Wochenende darauf, ginge es dann?“

„Nein, auch nicht, an dem Wochenende haben wir doch unseren Kongress. Zu dumm, ich glaube fast, wir müssen unsere Verabredung vertagen. Wir bleiben in Verbindung! In Ordnung?“

„Etwas verschroben ist die Angelegenheit schon.“ Gedankenversunken blicke ich auf das Telefon als schulde es mir eine Antwort. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass das gesunde gedeihen seines Freiraumes einer Manipulation unterliegt; ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass seine Zeit zielstrebig und unerschütterlich zu einer konsequenten Umwandlung abkommandiert wird.“

Illusorische Trugschlüsse, trügerische Philosophien, unmoralische Unterstellungen? Wie auch immer, die Funktionalisierung des Individuums erinnert mich nun einmal an ein Marionettentheater, an Schöpfungen, die der Mensch, an Fäden hängend, zappeln lässt.

Ich stelle mir vor, ich wäre ebenfalls, wie er, ein so eifriger Besucher der wöchentlich anberaumten Versammlungstreffen, würde, genau wie er, diverse „Dienst-Vorrechte“ wahrnehmen und obendrein noch jeden Kongress besuchen. Wie, bitte schön, sollte das wohl funktionieren, wie habe ich mir das denn vorzustellen? Wo bliebe dann die Kommunikationsebene, das Fundament, das dringlichst benötigt wird um eine normale Freundschaft zu (er)leben, in welches dunkle Loch hätte man sie gepresst?

Wir wohnen nicht in derselben Stadt, sind demzufolge verschiedenen Versammlungen, die in unserem Falle außerdem noch überwiegend an unterschiedlichen Wochentagen stattfinden, zugeteilt. Und angenommen, nur mal angenommen, ich ginge, und ich beziehe das jetzt auf meine Versammlungs-Zeiten, regelmäßig zu dem Versammlungs-Buchstudium, das jeden Dienstag in den Abendstunden stattfindet, und ich wäre, auch in den Abendstunden versteht sich, jeden Donnerstag ein Zuhörer der Dienst-Zusammenkunft sowie der anschließenden Theokratischen-Predigtdienstschule, und würde ebenso selbstverständlich an jedem Sonntagvormittag zur Zusammenkunft für die Öffentlichkeit mit anschließendem Wachtturm-Studium erscheinen, wie könnte ich dann mit einem Menschen eine realistische Verabredung vereinbaren, der am Montag das Buchstudium, am Freitag die Dienstzusammenkunft samt Schule und am Sonntag-Nachmittag den Vortrag für die Öffentlichkeit nebst Wachtturm-Studium besucht?

Wie habe ich mir das vorzustellen?

Und ganz bewusst ziehe ich, was mich betrifft, bei meinem kleinen Gedankenspiel nur ein Hingehen, ein Zuhören und ein Anwesendsein in Erwägung, für die Abarbeitung etwaiger „Dienst-Vorrechte“, sie sind übrigens denen vorbehalten, die regelmäßig in die Versammlung gehen, würde sich in jedem Fall der Mittwoch und der Samstag anbieten.

Mein kleines Denkmodell beschränkt sich wie gesagt lediglich auf den Besuch der Versammlung, es klammert die sich ständig wiederholende, intensive Vorbereitung auf die Versammlungszusammenkünfte, sie wird seitens der Organisation stets wärmstens angeraten, aus. Ebenso erinnert die Organisation an den Predigtdienst, ermuntert sie zum persönlichen Studium der Bibel, rät sie dringend zum Familien-Studium, appelliert sie an die Menschen, die Samstags-Treffpunkte für den Predigtdienst zu unterstützen. Das alles soll möglichst periodisch erfolgen und in den persönlichen Wochenzeitplan passen. Aber es fand in meinem Gedankenexperiment keine Erwähnung. Allerdings wüsste ich auch nicht, wo ich diese Aktivitäten noch hätte unterbringen können, nein, mit dem besten Willen gelänge es mir selbst in einem Modell nicht. Zugegeben, den Kongressen, den Bezirks- Kreis- und Sonderkongressen, denen könnte ich noch einen Platz weisen. Aber Schluss jetzt mit meinen Annahmen, ich halte sie, natürlich wieder ganz allein auf meine Person bezogen, für überspannt, verschroben und unrealistisch.

Äußerst interessant wäre es sicherlich, einmal gedanklich den Fall zu konstruieren, dass nicht nur zwei - sondern drei oder gar vier emsige (beamtete) „Versammlungsgeher“ ein gemütliches Beisammensein bei „Bier und Chips“ planen...

„Aber das sind doch Pflichten, die wir als Christen nun mal haben, es wird außerdem bei uns niemand irgendwann zu irgendetwas gezwungen. Für mich gehört der Besuch der Versammlung zu meiner Freizeitgestaltung. Ich bin dort gerne mit den Menschen zusammen. Das ist mein Leben!“

Für meinen Gesprächspartner ist damit Situation und Angelegenheit in jeglicher Hinsicht ausreichend geklärt und entschuldigt. Wir sind gute alte Freunde die viel miteinander verbindet, und ich will keinesfalls die Behauptung aufstellen, dass es uns völlig versagt ist, die eine oder andere Flasche Wein miteinander trinken zu können, aber sein permanenter Zeitmangel lässt einem konstruktiven „Zusammen-Auseinandersetzen“ kaum eine Chance. Zunehmend reduziert sich der Inhalt unserer Unterhaltungen auf das seichte Niveau der Oberflächlichkeit herunter, beharrlich schmälern sich die Verbindungen, auf denen ein „Miteinander-Reifen“ sensibel lagert. Ich sehe es, und kann es nicht ändern. Er könnte es ändern (?!), vermag es jedoch nicht mehr zu sehen...

„Redete man dir diese Pflichten nicht unbeirrbar ein, goss man sie dir nicht ununterbrochen über deinen hängenden Kopf, solange, bis du selber begannst, sie dir und anderen unermüdlich einzureden. Liegt nicht genau darin der morbide Zwang begründet, ein Zwang den du nicht mehr als solchen empfinden kannst, in dem ewig sich wiederholenden Frage– und Antwortspiel, einem Zeitvertreib mit immer denselben Überschriften die da lauteten: Organisation, Versammlung und Dienst; Gesellschaft, Zusammenkunft und Amt?“

Für mich ist mit diesen unseren Gedanken noch nichts ausreichend geklärt, und erst recht nichts entschuldigt. Diese in Bruchteilen von Sekunden durch das Kabelnetz hechelnden Impulse unserer Sinne, können weder genügend berichtigen noch befriedigend rechtfertigen. Das zu erreichen, sollte man einer Telefonverbindung nicht abverlangen.

„Nein, mein Freund, so einfach können wir beide es uns nicht machen. Du sagst, die Versammlung gehört zu deiner Freizeitgestaltung, du bist mit den Menschen dort gerne zusammen, das ist dein Leben. Aber ist es nicht eher so, dass die streng angeordnete Disposition der Versammlung ein Zusammensein, eine Begegnung im wahrsten Sinne des Wortes, von vornherein ausgrenzt. Du redest von „deiner“ Freizeitgestaltung, aber gestaltet nicht viel eher die Versammlung deine Freizeit, und zwar in einem Zuge deinen gesamten dir zur Verfügung stehenden Vorrat?“ Oft genug bekam ich die beschämende Bestätigung, dass ein besonnenes Gespräch, eine bewusste Unterhaltung, im Rahmen einer „brüderlichen Zusammenkunft“, wie, wann und wo auch immer sie zelebriert wird, in der Regel unrealisierbar ist. Oft genug sah ich sie mit apathischen Gesichtern durch die „Königreichssäle“ meiner Stadt taumeln, die Frauen Männer und Kinder jeglichen Alters, auf der mehr oder weniger bewussten Suche nach zwischenmenschlichen Beziehungen – auf der nahezu aussichtslosen Jagd nach etwas selbstgestalteter Verständigung. Hypnotisierte Hypnotiseure, Gradwanderer, mit wahrlich bezaubernder Anpassungsfähigkeit.

Gut, das war es dann wohl für heute, da kann ich noch solange auf das Telefon stieren, die Verbindung ist unterbrochen. Ich meine es so wie ich es sagte, ich sprach von der soeben benutzten elektrischen, von der telefonischen Verknüpfung. Die Technik erneut zu aktivieren ist ein Leichtes, sicher. Und trotzdem wäre der „Kontakt“ zwar wiederhergestellt, aber es wäre, und jetzt spreche ich nicht mehr von einer reinweg technischen Zusammenkoppelung, „unsere“ Verbindung dennoch in einer Weise gestört, die durchaus mit einer Unterbrechung gleichzusetzen ist. Nein, nicht die Freundschaft zwischen ihm und mir ist gemeint, sie hat nie einen wirklichen Abbruch erfahren müssen, gemeint ist die Basis, die Grundlage unserer zwischenmenschlichen Verständigung, sie ist gestört und läuft Gefahr völlig auseinander zu brechen.

Ja, und nicht weil wir grundsätzlich auf unterschiedlichen Ebenen zu kommunizieren gedenken ist das der Fall, auch das trifft es nicht. Der Umstand, dass die momentane Ausgangslage kaum Zeit für sachdienliche Gespräche aufweist, blockiert und unterwandert eine konstruktive Entfaltung vorhandener Ängste, Zweifel und Hoffnungen.

„Für dich ist die Welt, deine Welt, so in Ordnung. Die Integration der mehr als nur prekären Sachlage, in das was du als den ‚gottgefälligen Lebensweg’ bezeichnest, schaffst du durchaus ohne Mühen. Und genau das unterscheidet uns voneinander. Diese generelle Miteinbeziehung der Auswirkungen menschlicher Dummheiten in die Glaubenssätze der christlichen Lehren kann, will und werde ich nie als eine gottgewollte Zielsetzung anerkennen. Das liegt deutlich jenseits der Grenzen meiner mir möglichen Anpassungsfähigkeit. Genau an der Stelle wird für mich ein entschuldbarer Flüchtigkeitsfehler menschlicher Mühen, zu einem gesund sprießenden Fanatismus-Saatkörnchen. Ein solch elementares Defizit an geistiger Freiheit lässt einen Menschen aus meiner Sicht unaufhaltsam flussabwärts treiben, macht ihn zu einem stimmrechtlosen, phlegmatischen Spielball reißender Irrtums-Fluten, ja spült ihn kommandierend auf die geräumige Spielwiese tummelnder Sektierer-Massen. Von daher mein Freund, dessen bin ich mir sicher, werden wir, was das Ausleben des uns von Gott übereichten Geschenkes „Zeit“ betrifft, auch in Zukunft auf keinen gemeinsamen Nenner kommen!“

Fast schon ironisch grinst mich ein kleines blaues Heftchen an, das vor mir auf meinem Schreibtisch liegt. „Täglich in den Schriften forschen, 2001“, fordert der in schwarzen Lettern gehaltene Titel des Büchleins auf. Ich nehme das Werk - eine von der Gesellschaft herausgegebene Ansammlung von Kommentaren die jährlich erscheint - in die Hand und schlage es zwischen den ersten Seiten auf: „Tagestexte und Kommentare“, so ließt sich die letzte der einleitenden Überschriften. Und: „Für jeden Tag ist ein Text mit einem Kommentar zu diesem Text vorgesehen. Die Kommentare sind den Ausgaben des Wachtturms der Jahre 1999/2000 entnommen.“ Ein weiteres blättern der vorderen Seiten präsentiert mir das eigentliche Vorwort:

„’Des vielen Büchermachens ist kein Ende, und sich ihnen viel zu widmen ist ermüdend für das Fleisch.’ Das schrieb König Salomo unter göttlicher Inspiration (Pred. 12:12)

Wer einen Blick in die Regale irgendeiner Buchhandlung wirft oder durch eine größere öffentliche Bibliothek geht, wird die Aussage Salomos sofort bestätigt finden. Natürlich missbilligte Salomo mit diesen Worten nicht das Lesen an sich. Er wies lediglich darauf hin, wie ermüdend oder sogar schädigend es sein kann, wenn sich jemand dem Lesen aller Bücher widmet, die er in die Hände bekommt. Entscheidend ist, dass wir, was den Lesestoff betrifft, wählerisch sein müssen, wenn wir daraus Nutzen ziehen möchten.“

Letzt genanntes kann ich nur unterstreichen. Weiter heißt es dann im nächsten Absatz:

„Wie anders ist es doch, wenn es um das Lesen im Wort Gottes geht. ‚Das Gesetz Jehovas ist vollkommen, bringt die Seele zurück. Die Mahnung Jehovas ist zuverlässig, macht den Unerfahrenen weise’, erklärte der Psalmist, in diesem Fall König David (Ps. 19:7). Der Ausdruck ‚bringt die Seele zurück’ ist von besonderem Interesse. In einem Nachschlagewerk wird er mit ‚zu neuem Leben erwachen’ wiedergegeben, und zusätzlich heißt es dort, dass Gottes Wort wie eine ‚fundamentale Kraft ist, die den ermatteten Geist der Menschheit zu voller Kraft und Vitalität wiederbelebt’. In dieser Hinsicht werden wir an Jesu Worte erinnert: ‚Nicht von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jeder Äußerung, die durch den Mund Jehovas ausgeht’ (Mat. 4:4; 5. Mo. 8:3). Sich regelmäßig von Gottes Wort, der Bibel, zu ernähren gibt uns Kraft und innere Stärke, die wir sehr benötigen, damit es uns gelingt, mit den täglichen Problemen und Schwierigkeiten fertig zu werden.“

So etwas kann getrost gedruckt und veröffentlicht werden. Ich lese weiter:

„Angesichts dessen bereitet es uns Freude, diese Broschüre herauszugeben. Für jeden Tag des Jahres ist ein Schrifttext zur Betrachtung vorgesehen. Ihn zu lesen und darüber nachzusinnen, besonders bevor man seinen alltäglichen Beschäftigungen nachgeht, bewirkt sicherlich, dass ‚die Seele zurückgebracht’ wird. Zusätzlich enthält diese Broschüre Auszüge aus früheren Ausgaben der Zeitschrift ‚Der Wachtturm’, in denen die Schrifttexte kommentiert werden. In den meisten Fällen hilft uns der Kommentar, den Schrifttext in verschiedenen Lebensbereichen anzuwenden – in unserem persönlichen Benehmen, in unserem Umgang, in unserem Verhältnis zu Gott, beim Predigen der guten Botschaft von Gottes Königreich und anderem mehr. Wie können wir aus dieser Publikation Nutzen ziehen? Obwohl es viele Möglichkeiten dazu gibt, ist wichtig, dass wir uns bemühen, es uns zur Gewohnheit zu machen, den Tagestext und den Kommentar irgendwann während des Tages zu lesen. Wie schon früher erwähnt, haben die meisten festgestellt, dass dies morgens für sie am günstigsten ist. Dann ist der Sinn noch verhältnismäßig frisch und unbelastet. Wie wunderbar ist es, den Tag damit zu beginnen, seinen Sinn mit den Aussprüchen Jehovas, die ‚die Seele zurückbringen’, anzufüllen und so von dem Quell ‚dynamischer Kraft’ zu zehren, um einen guten Start zu haben (Jes. 40:26).“

Ich belasse meinen Daumen zwischen den Seiten, und schließe das Büchlein für einen kurzen, eigenen Gedanken. Da haben wir sie wieder, die seitens der Gesellschaft, seitens der Organisation an uns gerichtete Ermahnung „stets und ständig seinen Geist mit theokratischen Überlegungen zu nähren“. Verlässlich wie immer, erscheint sie auch in dem Vorwort dieser Broschüre, die Ermunterung der „leitenden älteren Herren“, sein Bewusstsein, ohne die geringste Ablenkung, absolut auf „organisatorisch–theokratische Belange“ fixiert zu halten. „Wie schon früher erwähnt, haben die meisten festgestellt, dass dies morgens für sie am günstigsten ist. Dann ist der Sinn noch verhältnismäßig frisch und unbelastet.“

So ermuntert der vorletzte Satz den Leser. „Wie wunderbar ist es, den Tag damit zu beginnen, seinen Sinn mit den Aussprüchen Jehovas, die die Seele zurückbringen, anzufüllen und so von dem Quell dynamischer Kraft zu zehren, um einen guten Start zu haben.“

Im Prinzip alles richtig, sage ich mir, prinzipiell verhält es sich so wie zitiert. Aber, diese ermunternde Botschaft, dieser erbauende Appell, richtet zeitgleich „zwei“ Aufforderungen an die Leser der Versammlungen!

Mit derartigen „parallel auftretenden Ermunterungen“ habe ich so meine Erfahrungen gemacht. Doch, habe ich, das darf ich ohne dabei im Geringsten zu übertreiben sagen. Jene zeitgleichen auftretenden Ermunterungen wurden in der Vergangenheit des Öfteren bei mir vorstellig. Sie richteten sich andauernd, von allen möglichen Bühnen herunter, an die Zuhörerschaften der Zusammenkünfte. Und, man sollte es nicht für möglich halten, obwohl erfahrungsgemäß lediglich die erste der zwei Aufforderung eine bewusste Wahrnehmung erfuhr (?), arbeitete man letztlich tatsächlich beide Ersuche konzentriert und emsig ab!

Ich schlage das Büchlein mit den Tagestexten an der Stelle auf, an der ich meinen Daumen als Lesezeichen postiert hatte und lese weiter:

„Andere finden es besser, den Stoff zu betrachten, wenn die gesamte Familie zusammensein kann, eventuell beim Abendessen. Es gemeinsam als Familie zu tun ist für eine gute Kommunikation förderlich, die in diesen ‚kritischen Zeiten, mit denen man schwer fertig wird’, unbedingt notwendig ist (2. Tim. 3:1). Tagestextbesprechungen mit der Familie können oft eine Hilfe sein, die Aufmerksamkeit auf Bereiche im Familien-Leben zu lenken, die der Verbesserung bedürfen, was wiederum zu erfreulichen Ergebnissen führt (Spr. 15:22). Obgleich man durch das Lesen gewisser guter weltlicher Lektüre seinen Horizont in bezug auf die eigene Lebensauffassung erweitern und man spezielle Themen besser verstehen kann, gibt es nichts, was mit der täglichen Aufnahme von Gedanken aus Gottes Wort verglichen werden kann (Joh. 17:3). Diese Broschüre kann auf ihre Weise viel dazu beitragen, dass wir uns geistig ernähren.“

Soweit also das Vorwort. Ich kann nicht guten Glaubens davon ausgehen, dass mir der zu vermutende Inhalt der nun folgenden Tagestext-Lektüre völlig unbekannt sein wird, wirklich nicht, dazu ist mir der Stoff, bedingt durch die in den vergangenen Jahren gesammelten Erfahrungen, nur allzu vertraut. Dessen ungeachtet hat er mein Interesse geweckt. Mit der Absicht dem Zufall die Auswahl zu überlassen, blättere ich mir einige der Texte wahllos heraus:

Mittwoch, 3. Januar: „Zu seiner Zeit werden wir ernten, wenn wir nicht ermatten“ (Gal.6:9)

„In dem Wettlauf um das Leben müssen wir gegen unseren Hauptfeind, Satan, den Teufel, kämpfen. Da wir uns dem Ende nähern, versucht er unerbittlich, uns zum Straucheln zu bringen oder uns zu bremsen (Off. 12:12, 17). Überdies könnte uns das Ende manchmal weiter entfernt erscheinen, als wir zunächst dachten, besonders wenn wir den Wettlauf vor Jahrzehnten begonnen haben. Doch das Ende wird kommen, wie Gott es uns in seinem Wort zugesichert hat. Jehova sagt, es werde sich nicht verspäten. Das Ende ist in Sicht. (Hab. 2:3; 2. Pet. 3:9, 10). Damit wir im Wettlauf um das Leben erfolgreich sein können, müssen wir Kraft aus dem schöpfen, was Jehova liebevoller Weise zu unserer geistigen Ernährung bereitgestellt hat. Wir benötigen auch alle die Ermunterung durch die regelmäßige Gemeinschaft mit unseren Brüdern. Selbst wenn auf der Strecke schwere Verfolgung oder unvorhergesehene Umstände eintreten und den Wettlauf erschweren sollten, können wir bis zum Ende ausharren, denn Jehova verleiht uns ‚die Kraft, die über das Normale hinausgeht’ (2. Kor. 4:7). Jehova möchte, dass wir den Lauf siegreich vollenden, und wie beruhigend ist es doch, das zu wissen!“

Mittwoch, 7. März: „Jeder, der an einem Wettkampf teilnimmt, (übt) in allen Dingen Selbstbeherrschung“ (1. Kor. 9:25)

„Die Wettkämpfer, die in alter Zeit an den Ishmischen Spielen teilnahmen, unterzogen sich einem harten Training, achteten peinlich auf das , was sie aßen und tranken, und reglementierten ihr gesamtes Tun, um zu gewinnen. Wie verhält es sich mit dem Wettlauf, den Christen begonnen haben? ‚Man muss auf seine geistige Ernährung achten, wenn man im Wettlauf um das Leben ausharren will’, sagte ein Ältester einer Versammlung von Jehovas Zeugen. Betrachten wir, für welche geistige Speise Jehova, ‚der Gott, der Ausharren verleiht’, gesorgt hat (Röm. 15:5). Unsere geistige Nahrung beziehen wir hauptsächlich aus seinem Wort, der Bibel. Sollten wir uns deshalb nicht an ein gutes Bibelleseprogramm halten? Durch den ‚treuen und verständigen Sklaven’ hat Jehova auch für die zeitgemäßen Zeitschriften ‚Der Wachtturm’ und ‚Erwachet!’ und für andere bibelerklärende Veröffentlichungen gesorgt (Mat. 24:45). Sie fleißig zu studieren wird uns geistig festigen. Wir kommen wirklich nicht umhin, uns für das persönliche Studium Zeit zu nehmen‚ die gelegene Zeit auszukaufen’ (Eph. 5:16).“

Donnerstag, 14. Juni: „Gebt ... acht, wie ihr zuhört“ (Luk. 8:18)

„Wenn wir einem biblischen Vortrag oder einem anderen Programmpunkt zuhören, sollten wir versuchen, die Hauptgedanken herauszukristallisieren. Ahnen wir voraus, was der Redner als nächstes sagen wird. Achten wir auf Gedanken, die wir im Predigtdienst gebrauchen oder in unserem Leben anwenden können. Wiederholen wir im Geist die Gedanken, die gerade betrachtet werden. Machen wir uns kurze Notizen. Gute Zuhör-Gewohnheiten entwickelt man am besten in jungen Jahren. Einige noch nicht schulpflichtige Kinder werden, schon bevor sie lesen und schreiben können, von ihren Eltern ermuntert, während der Zusammenkünfte ‚Notizen’ zu machen. Die Kinder machen ein Zeichen auf ein Blatt Papier, wenn bekannte Wörter wie ‚Jehova’, ‚Jesus’ oder ‚Königreich’ fallen. Auf diese Weise können sie lernen, sich auf das zu konzentrieren, was von der Bühne gesagt wird. Auch ältere Kinder müssen manchmal noch ermuntert werden, aufmerksam zu sein. Ein Vater bat seinen 11 jährigen Sohn, die Bibelstellen aufzuschlagen, die die Redner anführten. Der Vater, der Notizen machte, las die Texte in der Bibel mit, die der Sohn in den Händen hielt.“

Donnerstag, 20. September: „Kämpfe den vortrefflichen Kampf des Glaubens, ergreife fest das ewige Leben“ (1. Tim. 6:12)

„Da Paulus Wendungen wie ‚kämpfe den vortrefflichen Kampf’ und ‚ergreife fest’ gebraucht, wird deutlich, dass wir uns gegen geistig schädliche Einflüsse intensiv und entschlossen wehren müssen. Natürlich ist Unterscheidungsvermögen nötig, um den vortrefflichen Kampf des Glaubens zu kämpfen (Spr. 2:11; Phil. 1:9). Es wäre zum Beispiel unvernünftig, weltlichen Informationen von vornherein zu misstrauen. (Phil. 4:5; Jak. 3:17). Nicht alle menschlichen Überlegungen widersprechen Gottes Wort. Jesus spielte auf die Notwendigkeit an, dass Kranke einen guten Arzt aufsuchen – jemand mit weltlichen Fachkenntnissen (Luk. 5:31). Trotz der vergleichsweise primitiven Art der ärztlichen Behandlung in den Tagen Jesu, erkannte er an, dass ärztliche Hilfe von gewissem Nutzen war. Christen lassen heute in bezug auf weltliche Informationen Ausgewogenheit erkennen, aber sie wehren sich gegen den Kontakt mit irgendwelchen Informationen, die womöglich in geistiger Hinsicht schädlich sind.“

Freitag, 28. Dezember: „Die verbleibende Zeit ist verkürzt. Fortan seien die, die Ehefrauen haben, so, als ob sie keine hätten“ (1. Kor. 7.29)

„Die Freuden und Segnungen der Ehe müssen manchmal hinter theokratischen Aufgaben zurückstehen. Eine ausgeglichene Ansicht darüber wird eine Ehe nicht schwächen, sondern sie stärken. Beide Partner werden nämlich dadurch daran erinnert, dass Jehova in ihrer Beziehung immer die stabilisierende Hauptrolle spielt (Pred. 4:12). Einige Ehepaare haben auf Kinder verzichtet, weil sie ihren Dienst für Gott dadurch ungehindert durchführen können. Übrigens wird in der Bibel dort, wo sie zum Unverheiratetsein um der guten Botschaft willen ermuntert, nicht direkt etwas darüber gesagt, aus demselben Grund kinderlos zu bleiben (Mat. 19:10-12; 24:19; Luk. 23:28-30; 1. Kor. 7:38). Ehepaare müssen daher gemäß den persönlichen Umständen und den Gewissensempfindungen eine eigene Entscheidung treffen. Wie auch immer die Entscheidung ausfällt, sollten Ehepaare deswegen nicht kritisiert werden.“

Genug gelesen, ich belasse es dabei, schlage das kleine blaue Heft zu und lege es beiseite. Zugegeben, ich war nie ein besonderer Freund dieser „Tagestextzeilen“. Nicht dass ich etwas gegen einen Bibelspruch, oder dessen Erläuterung einzuwenden hätte, nein, warum auch, aber „diese“ täglichen Ermunterungen erinnern mich ständig an Routine-Kontrollen der eigenen Gedanken, an die Zensur der individuellen Denk-Möglichkeiten, die man sich, nach einer mehr oder weniger langen Eingewöhnungsphase, bereitwillig selber auferlegt.

Natürlich habe ich auch nichts dagegen, dass der ein oder andere Mensch seinen Verstand unter Kontrolle hält und sich so in die glückliche Lage versetzt, seine eigenen Gedanken vernünftig lenken zu können, jedoch mag ich es nicht im Geringsten, wenn irgendwer, irgendwem sagt was „gefälligst gedacht werden sollte“ und, und das setzt dem ganzen dann wirklich endgültig „die Krone auf“, dem so belehrten Zeitgenossen dann auch noch die „regelmäßige Inspektion der Denkmusterübernahme“ übertragen wird.

Das halte ich für ein zwar wirkungsvolles aber dennoch unbrauchbares Einvernehmen.

Mittwoch, 3. Januar: „Damit wir im Wettlauf um das Leben erfolgreich sein können, müssen wir...“

Mittwoch, 7. März: „Man muss auf seine geistige Ernährung achten, wenn man im Wett-Lauf um das Leben ausharren will. ... Wir kommen wirklich nicht umhin, uns für das persönliche Studium Zeit zu nehmen, die gelegene Zeit auszukaufen.“

Donnerstag, 14. Juni: „Wiederholen wir im Geist die Gedanken, die gerade betrachtet werden.“ ... „Ahnen wir voraus, was der Redner als nächstes sagen wird. ... Die Kinder machen ein Zeichen auf ein Blatt Papier.“

Donnerstag, 20. September: „Christen lassen heute in bezug auf weltliche Informationen Ausgewogenheit erkennen, aber sie wehren sich gegen den Kontakt mit irgendwelchen Informationen, die womöglich in geistiger Hinsicht schädlich sind.“

Freitag, 28. Dezember: „Die Freuden und Segnungen der Ehe müssen manchmal hinter theokratischen Aufgaben zurückstehen. ... Ehepaare müssen daher gemäß den persönlichen Umständen und den Gewissensempfindungen eine eigene Entscheidung treffen.“

und so weiter.

Wie gesagt, ich persönlich habe mit diesen Parolen so meine Problemchen. Es handelt sich zwar ganz unbestreitbar um formulierte biblische Weisheiten, um der Bibel entnommene Leitgedanken, aber gerade deshalb sollten wir sie tunlichst in ihrem natürlichen Umfeld belassen.

Es kommt doch, was das Lehren mit der Bibel in der Hand betrifft, letztlich darauf an, wer, was, warum, wann zu wem sagt und wer, welchen Vers der Bibel, aus welchem Grunde, zu welchem Zeitpunkt welchem Menschen zitiert, oder? Oder gilt der für den 3. Januar des Jahres 2001 abgedruckte Spruch: „Damit wir im Wettlauf um das Leben erfolgreich sein können, müssen wir...“ uneingeschränkt immer?

Doch, in dem Zusammenhang, in dem er in der Bibel in Erscheinung tritt, sollten wir ihn sicherlich als eine „Konstante“ sehen und verarbeiten dürfen, allerdings aber auch „nur“ in „dem“ Zusammenhang.

Die Vergangenheit lehrt uns Menschen, dass immer dann, wenn der religiös motivierte Erdenbürger diesen Bezug vermischte, und die Geschichte der Christenheit bezeugt leider wiederholt solche Bemühungen, dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet wurde. Wer könnte das ernsthaft leugnen wollen? Wie man derartige biblische Weisheiten missbrauchen kann? Nun, nichts ist leichter als das! Nur allzu oft geht ein wackeres Glaubensbekenntnis Hand in Hand mit der etwas absonderlichen Neigung zur vehement übertriebenen Leichtgläubigkeit: „Es steht doch so in Gottes Wort der Bibel geschrieben, und die aus ihr Lehrenden gelten zu Recht als besonders gesegnete Unterweiser!“ Beschuht mit solch lockeren Sandalen der Frömmigkeit, läuft es sich leicht von dem Ufer der aufrichtigen Motivation, über die stabile Brücke der „parallel auftretenden Ermunterungen“, hinüber in die Unendlichkeit der graziös anmutenden Irrtümlichkeiten.

Unterhaltsam humoristisch? Nein, ineinander greifend, deprimierend, schockierend, zähflüssig und in einem hohen Maße abbauwürdig!

Ich will es nicht leugnen, das kleine Heftchen sowie jenes mich fast schon ironisch angrinsende blaue Büchlein lagen nicht zufällig auf meinem Schreibtisch. Und ebenso das Telefonat mit meinem Freund. Ich platzierte es nicht ohne einen Hintergedanken zwischen meine Zeilen. Natürlich nicht. Beides, die Tagestexte der Gesellschaft und das Gespräch mit dem mit mir befreundeten „zeitlosen Nächsten“, unterstreicht das was ich sagen will, betont meine unendlich große Sorge. Das sind keine Zufälle. Nein, ebenso wenig wie es dem Zufall überlassen wurde, aus freien Menschen makellos maßgetreue Marionetten zu kreieren.

Wer sich was, warum auch immer dabei gedacht hat, wer, was, warum geleistet und gefördert hat, ist eigentlich sekundär, ist einerlei und schnurzpiepegal! Das Ergebnis, das Ergebnis und „nur“ das Ergebnis zählt! Das Resultat zählt bei Gott! Oder?

Denken wir darüber nach. 20 Minuten täglich sollten reichen.