Odenwälder Wohnhof in Leibenstadt bietet Unterschlupf für Sektenaussteiger - Bis zu 50 konfliktträchtige Gruppierungen im Land

Heilsverkünder, Propheten, Auserwählte: Der Sektenbeauftragte der Landesregierung schätzt die Zahl "konfliktträchtiger Gruppierungen" allein in Baden-Württemberg auf 40 bis 50. Opfer von Sekten und so genannten Psychogruppen finden im Odenwälder Wohnhof nahe Möckmühl eine erste Zufluchtstätte.

Yvonne K. lehnt sich zurück. Die 23-Jährige genießt die Stille, die der Ort Leibenstadt ausstrahlt. Die schlichte Einrichtung des ehemaligen Pfarrhauses neben der Kirche wirkt beruhigend. Lediglich ein Fernsehgerät sorgt im Odenwälder Wohnhof hin und wieder für Zerstreuung. "Endlich habe ich wieder einmal Zeit nur für mich."

Die Idylle trügt. Yvonne ist auf der Flucht. Noch vor einer Woche hat sie Menschen kontrolliert. Im Auftrag von Scientology hat sie Mitglieder der eigenen Organisation daraufhin überprüft, ob sie regelmäßig Veranstaltungen der Sekte besucht haben. "Wenn einer Lücken hatte, musste ich ihn der Ethikabteilung melden", sagt Yvonne. Yvonne hat Glück. Sie hat eine starke Persönlichkeit und Eltern, die um ihr Kind besorgt sind. Nach vier Monaten hat sie Scientology den Rücken gekehrt. "Ich habe den Druck nicht ausgehalten." Den Kontakt zum Odenwälder Wohnhof haben ihre Eltern hergestellt.

Mit Yvonne lebt zurzeit die 32-jährige Karin S. im Wohnhof. Bevor Karin nach Leibenstadt kam, verkehrte sie jahrelang in der spirituellen Szene. "Meine Mathelehrerin hat mich mit ihrem Geschwätz über Inkarnation auf diese Idee gebracht", erinnert sich Karin. Damals sei sie 16 Jahre alt gewesen.

Bis zu acht Personen bietet der Odenwälder Wohnhof Platz. "Die meisten bleiben zwischen 14 Tagen und zwei Monaten", sagt die Leiterin der Einrichtung, Inge Marie Mamay (heute: Bonin, Red.). Aber auch schon bis zu einem halben Jahr haben Opfer von Sekten und Psychogruppen hier verbracht. "Es kommt auf den Grad der Schädigung an", sagt Mamay. Mamay bekommt Anfragen aus ganz Deutschland. Der Kontakt findet meistens telefonisch oder per E-Mail statt. Die Anrufer gehören den unterschiedlichsten Gruppen an. Die Palette reicht von Satansanbetern über Organisationen wie Scientology bis hin zu "scheinbar harmlosen Religionsgemeinschaften". So unterschiedlich diese Gruppierungen auch sein mögen, immer macht Mamay das gleiche Muster aus. "Sekten sprechen Sehnsüchte an und bieten hohe Ideale und Ziele, wie die Rettung der Welt." Was folge, seien "Millieukontrolle, Gehirnwäsche und Schuldgefühle".

Die Grenze zwischen gefährlicher Sekte und Religionsgemeinschaft ist fließend. Nicht immer liegt der Fall so klar wie bei Scientology. "Scientology hat eine eigene Justiz. Die Organisation erkennt das Wesen der Demokratie nicht an und verfährt übel mit Gegnern", sagt Beatrice Böninger, Berichtsreferentin Scientology-Organisation beim baden-württembergischen Landesamt für Verfassungsschutz.

Laut dem Weltanschauungsbeauftragten des evangelischen Gemeindedienstes für Württemberg, Dr. Hansjörg Hemminger, runden "Zugriff auf Persönlichkeit und Ausbeutung" das Gesicht dieser Organisation ab, die im Land ihre Zentrale in Stuttgart hat und in Heilbronn eine so genannte Mission betreibt. Süddeutschland ist eine Hochburg für "religiöse Sonderlinge", sagt Hemminger. Exotische Gruppen wie etwa die "Spätregen-Mission" in Beilstein treffen hier auf fruchtbaren Boden. Über die Gefahr solcher Glaubensgemeinschaften gehen die Meinungen auseinander. Während Hemminger und der Sektenbeauftragte der Landesregierung Baden-Württemberg, Hans-Werner Carlhoff, den überwiegenden Teil der etwa 120 bis 150 Gruppierungen als eher harmlos einstufen, warnen Betroffene und Berater vor den Auswirkungen auch etablierter Glaubensgemeinschaften.

Olaf Stoffel, Buchautor und Koordinator einer Selbsthilfegruppe in Heidelberg, arbeitet therapeutisch im Odenwälder Wohnhof. Er warnt beispielsweise vor der "fast mafiösen Struktur der neuapostolischen Kirche", die schon Kinder systematisch mit psychologischen Mitteln manipuliere. Im Land sind sie Körperschaft des öffentlichen Rechts.

Ihre Hochburg liegt im Stuttgarter und Heilbronner Raum. Nora Herzog vom "Ausstieg e.V." in Jockgrin, führt häufig Gespräche mit Aussteigern der Glaubensgemeinschaft "Zeugen Jehovas". "Das ist eine apokalyptische Sekte, der ein perfides System der Ausbeutung zugrunde liegt". Herzog berichtet von "Halluzinationen, Depressionen und Selbstmorden".

Info: Der Odenwälder Wohnhof ist seit Oktober 2000 Modellprojekt, das von Bund und Land gefördert wird. Aussteiger von Sekten können sich unter (Odenwälder Wohnhof e.V., Unterer Flachsberg 15, 74743 Seckach-Zimmern, Tel.: 06291-7883, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein., [Kontaktdaten durch Red. aktualisiert]) direkt an Inge Marie Bonin wenden. Für Scientology-Aussteiger hat das Landesamt für Verfassungsschutz unter der Telefonnummer 0711 / 9561994 eine vertrauliche Hotline eingerichtet.

Quelle: MainPost, Würzburger Volksblatt, Heilbronner Stimme, 25.04.2001