Undercover umschwärmt: ein Besuch (in Hosen) beim Bibelstudium der Zeugen Jehovas in Bremen Findorff. "Sagen Sie, sind wir etwa ein schrecklicher Verein?"

"Was willst du, Schwester?" Ein Mann im schwarzen Anzug reißt ungehalten die eichene Eingangstür auf. "Komm rein! Ich habe nicht viel Zeit. Wen willst du treffen? - Du bist ein Gast??" Die Miene des Herrn erhellt sich. "Herzlich willkommen. Wie ist dein Name?" Ich nenne irgendeinen, nehme auch den kräftigen, warmen Händedruck entgegen, dann ist der Weg zum "Königreichssaal der Zeugen Jehovas" in der Auguststraße in Findorff frei. Heute Abend steht hier "Bibelstudium" auf dem Programm. Studiert wird in einem kleinen Raum hinten rechts. Fünfzehn Menschen sitzen dort im Kreis. Als der Herr im schwarzen Anzug eintritt, verstummt das Gemurmel. Freundliches Nicken. Ich darf auf einem - zufällig freien - Holzstuhl Platz nehmen und bekomme ein "Erkenntnisbuch" . "Wie war noch mal Ihr Name?" meint der Herr und notiert sich meine Antwort. "Nur, damit wir Sie korrekt ansprechen." "Er ist unser Aufseher." raunt die ältere Dame links von mir. Ich starre auf das weinrote Büchlein in meiner Hand. Erkenntnis, die zu ewigem Leben führt. "Wir sprechen heute über Kapitel 9 - Was geschieht beim Tod eines geliebten Menschen?" ergreift der Aufseher das Wort. "Bruder Liebig, leihst du uns deine Stimme?"

Bruder Liebig leiht gern und rezitiert engagiert: "Manchen trauernden Eltern wurde gesagt: "Gott sucht sich die schönsten Blumen aus, um sie zu sich in den Himmel zu nehmen." Stimmt das? Gelangen die Verstorbenen in einen geistigen Bereich? [...] Wir müssen Gottes Wort, die Bibel, zu Rate ziehen, um wahrheitsgemäße Antworten auf diese Fragen zu erhalten." Die Dame linkerhand zeigt mir stolz ihre grellgelben Markierungen im Text: "Wir haben das zu Hause studiert." erklärt sie im Flüsterton. Sie ist "Frau" respektive "Schwester" Liebig. Ich werfe einen Blick in die Runde. Der Aufseher fängt ihn auf und blickt mir hinterher. Auf dem Stuhl gegenüber rutscht ein etwas dreijähriges Mädchen vor und zurück und hält sich ein englisches "picture book" vor die Nase. Dann muß sie aufs Klo. Die Mutter, Anfang Zwanzig, trägt sie raus. Dem Vater mit der knatschblauen Obelixkravatte scheint das peinlich zu sein.

Schwester Muncks aufdringliche Stimme reißt mich wieder zurück zur "Erkenntnis" Der Text muß enträtselt werden. In welchem Zustand befinden sich die Toten, und wohin gehen sie? Schwester Munck wiederholft stupide die Stelle Absatz 7: "...zum Staub wirst du zurückkehren." Der Aufseher ist zufrieden. Es geht heute Abend viel um die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele. Sie wird krampfhaft abstrahiert und letztlich widerlegt. Blumengestecke der Christen für die Verstorbenen sind unsinnig. Schwester Liebig erhebt ihren Finger und erregt sich: "Heute abend kam im Fernsehen, daß Hilary Clinton Kontakt zur toten Frau Roosevelt aufnehmen wollte. Da sehen wir, wohin die Ungläubigkeit führen kann." "Vielen Dank für den Hinweis, Schwester Liebig" (der Aufseher). Wer hat noch nichts gesagt? Der Druck, irgendetwas beitragen zu müssen, hängt im Raum. Ein überaus adretter junger Mann formuliert kluge, kaum nachvollziehbare Sätze. Schwester Munck (vielleicht Mitte fünfzig) antwortet am eifrigsten. Schwester Liebig nimmt ihren Mittelfinger gar nicht mehr nach unten. Nur die Frau im Rollstuhl neben der Tür schweigt. Nach einer Stunde beenden die fünfzehn Menschen mit einem Gebet den einvernehmlich gelungenen Abend und verlassen würdevollen Schrittes in einem kleinen Defilee das kleine Zimmer.

Sie alle haben sich ein wenig zurechtgemacht, die Herren tragen Schlipse, die Frauen Röcke. Ich bleibe noch sitzen, der Aufseher und Schwester Liebig treten an mich heran: "Warum sind Sie hier?" - "Gehören Sie einer Glaubensgemeinschaft an?" - "Nehmen Sie doch unsere Bibel mit." - Wir freuen uns über jedes neue Gesicht." Der Aufseher rückt an mich heran und blättert demonstrativ in dem großen Zeugen-Jehovas-Buch aus Brooklyn/New York: "Sehen Sie, wir sind in Mexiko, in Thailand, in Afrika. Und hier in dem schönen Gebäude in Selters im Taunus sitzt unsere Wachtturmgesellschaft und gibt unsere Schriften heraus. Tausende, Millionen im Jahr." Ich staune anerkennend und frage vorsichtig, wie denn das alles zu finanzieren sei. "Wir spenden..." setzt Schwester Liebig an. "Ach wissen Sie, manchmal wissen wir gar nicht, wo das Geld herkommt" fährt ihr der Aufseher ins Wort. "Sie können mich zu Hause besuchen kommen" insistiert der Mann. Wenn ich Mitglied werden wolle, müsse ich zunächst die Bibel studieren, dann prüfe mich der Ältestenrat. "Und dann werden sie getauft" (Schwester Liebig) Ich würde mir das überlegen, beharre ich auf meiner Anonymität. "...sind wir etwa ein schrecklicher Verein?" blitzt Schwester Liebig lächelnd hinter ihrer Nickelbrille hervor, während der Aufseher ihrem Mann - Bruder Liebig - noch schnell eine Spendenquittung ausstellt. Die Frau scheint in mir eine zu errettende Seele entdeckt zu haben. Sie ergreift meinen Arm und geleitet mich fürsorglich-mütterlich zur Tür.

Silvia Plahl
taz Bremen 29.06.97

* Alle Namen sind geändert