Nur wenige Aspekte der Bewegung der Zeugen Jehovas sind für außenstehende Beobachter faszinierender als die Vorhersagen für das Weltende. Doch die Vorhersagen selbst sind nur die Wellen an der Oberfläche eines viel tieferen Stromes im Leben der Anhänger.

Ein soziologischer Ausblick auf fehlgeschlagene Erwartungen in der Wachtturm-Gesellschaft

Wie sich die Vorhersagen bei den Mitgliedern auswirken, wie der Glaube an die Vorhersagen wächst, wie sie mit der Enttäuschung fertig werden und sich schließlich mit größerer Stärke neu gruppieren, ist viel gedankenanregender. Seit der Zeit Christi konnte man sich viele Endzeitszenarien näher ansehen. Bereits im zweiten Jahrhundert scharte der charismatische Führer Montanus Anhänger mit dem Glauben um sich, daß die Wiederkehr Christi nahe bevorstände und daß dies gemäß seiner "Neuen Prophetie" an einem bestimmten Ort geschähe. Harold O.J. Brown sagt dazu:

Die Überzeugung von Montanus, daß das Ende des Zeitalters bevorstände, führte ihn dazu, Christen aufzurufen, nicht mehr zu heiraten, bestehende Ehebündnisse aufzulösen und sich an dem entsprechenden Ort zu versammeln, um das Herabkommen der himmlischen Stadt zu erwarten. Doch die himmlische Stadt kam nicht wie erwartet herab; so mußten Montanus und seine Anhänger sich auf einen Grund für die Verzögerung einigen, da die gesamte Kirche lernen mußte, mit dem Ausbleiben der Wiederkehr Christi fertigzuwerden.[1]

Das Interessante dabei ist jedoch, daß die Montanisten nicht gleich ausstarben, sondern noch mehrere Jahrhunderte als kleine Sekte in Phrygien in Kleinasien weiterbestanden.

Leon Festingers Theorie

Wer dieses Phänomen näher betrachtet, muß dabei Leon Festingers "Theorie der kognitiven Dissonanz" Anerkennung zollen,[2] entwickelt in seinem Buch When Prophecy fails [Wenn Prophetie versagt], erstmals herausgegeben 1956 von Festinger und den Koautoren Henry W. Riecken und Stanley Schachter. Die Autoren bestanden aus einem Forschungsteam, das eine Studie über eine kleine Sekte in der Nachfolge einer Marian Keech durchführte, einer Hausfrau, die behauptete, sie habe Botschaften von Außerirdischen per automatischem Schreiben erhalten. Die Botschaft der Außerirdischen besagte, daß eine Weltkatastrophe bevorstehe, doch die Hoffnung bestände, daß Auserwählte, die durch Keech und andere erwählte Medien auf sie hörten, die Katastrophe überleben könnten. Was Festinger und seine Mitarbeiter am Ende demonstrierten, war, daß der Fehlschlag einer Vorhersage oft den gegenteiligen Effekt von dem hat, was der Durchschnittsmensch erwarten würde; die Sekte wird oft noch stärker und die Mitglieder noch mehr überzeugt von der Wahrhaftigkeit ihrer Handlungen und Glaubenssätze! Dieses einmalige Paradox steht im Mittelpunkt seines Artikels; wir werden später noch sehen, wie es besonders auf die Wachtturm-Bewegung zutrifft.

Festinger bemerkt:

Jemanden mit einer Überzeugung kann man schwer ändern. Wenn man ihm sagt, man sei anderer Meinung, wird er sich von einem abwenden. Wenn man ihm Fakten oder Zahlen nennt, wird er die Quelle anzweifeln. Wenn man an die Logik appelliert, wird er den entscheidenden Punkt nicht sehen. Wir haben alle schon erlebt, wie fruchtlos es ist, jemandem eine starke Überzeugung auszureden, besonders wenn der so Überzeugte einiges in seine Überzeugung investiert hat. Wir sind mit der Vielfalt der einfallsreichen Abwehrmechanismen vertraut, mit denen Leute ihre Überzeugungen schützen und sie unbeschädigt durch die verheerendsten Angriffe herüberretten. Aber der Einfallsreichtum von Menschen geht über das bloße Schützen einer Überzeugung hinaus. Angenommen, jemand glaubt etwas ganzherzig; angenommen weiter, er geht in dieser Überzeugung ganz auf und hat deshalb unwiderrufliche Schritte unternommen; schließlich noch angenommen, man legt ihm Beweise vor, eindeutige und unleugbare Beweise, daß seine Überzeugung, sein Glaube falsch ist: Was wird passieren? Die Person wird häufig daraus nicht nur unerschütterlich, sondern noch überzeugter denn je von der Wahrheit ihres Glaubens hervorgehen. Tatsächlich wird er vielleicht noch leidenschaftlicher als vorher Leute von seinen Ansichten zu überzeugen und sie zu bekehren suchen.[3]

When Prophecy fails beschäftigt sich hauptsächlich mit nicht eingetroffenen Vorhersagen, mit von Festinger so bezeichneten Nichtbestätigungen und der damit verbundenen Erneuerung an Kraft und Glauben in die Quelle der "göttlichen Führung". Seine Theorie setzt voraus, daß die Sekte durch bestimmte Merkmale gekennzeichnet ist:

  1. Der Glaube wurzelt in einer tiefen Überzeugtheit; ihr entsprechend wird gehandelt.
  2. Die Überzeugung oder Vorhersage muß spezifisch genug sein, um Nichtbestätigung zu erfahren (d.h. sie erfüllte sich nicht).
  3. Der Gläubige gehört zu einer Gruppe Gleichgesinnter, die einander unterstützen und sogar noch nach weiteren Anhängern suchen. Alle diese Merkmale trafen auf die Fliegende-Untertassen-Sekte zu..

Von besonderem Interesse in Festingers Buch ist, wie die Anhänger von Frau Keech auf jede Nichtbestätigung (fehlgeschlagenes Datum) reagierten. Man machte sich kaum Mühe, den Fehlschlag zu leugnen. Daß die Gruppe fortbestand, lag großenteils nicht an Rationalisierungen, sondern an der Kraft der Gruppe selbst und ihrer Hingabe an die Sache. Das erklärt, warum das Jüngermachen die Gruppe später so erfolgreich zusammenhielt. Festinger sagt:

Welche Erklärung man auch findet, sie selbst genügt als solche nicht. Die Dissonanz ist zu wichtig, und obwohl sie sie sogar vor sich selbst zu verbergen suchen, wissen die Anhänger doch, daß die Vorhersage falsch war und alle Vorbereitungen vergeblich. Man kann die Dissonanz nicht dadurch vollkommen beseitigen, daß man den Fehlschlag leugnet oder rationalisiert. Doch es gibt einen Weg, die verbleibende Dissonanz zu reduzieren. Wenn man immer mehr Leute von diesem Glaubensgebäude überzeugen kann, dann muß es doch wohl richtig sein. Im Extremfall heißt das: Würden alle Menschen etwas Bestimmtes glauben, gäbe es überhaupt keinen Zweifel an der Gültigkeit des Glaubens. Aus diesem Grunde beobachtet man nach Fehlschlägen vermehrtes Jüngermachen. Wenn sich das Jüngermachen als erfolgreich erweist, dann reduziert der Gläubige die Dissonanz, indem er Jünger macht und sich mit Unterstützern umgibt, bis zu dem Punkt, wo er damit leben kann.[4]

Am Ende gaben die Anhänger der Fliegende-Untertassen-Sekte nicht ihren Glauben an die Wächter aus dem Weltraum mit ihrer Verheißung einer neuen Welt auf. Trotz zahlreicher Vorhersagen und den damit aufkommenden Enttäuschungen, noch vertieft aufgrund vieler persönlicher Opfer, blieb die Gruppe stark. Zusammenfassend sagte Festinger über die letzten Phasen der Fliegende-Untertassen-Sekte:

Wenn man die Beweise zur Wirkung, die ein Fehlschlag auf die Überzeugung der Gruppenmitglieder hat, zusammenfaßt, sehen wir, daß von den elf Mitgliedern der Lake City-Gruppe, die vor diesem eindeutigen Fehlschlag standen, nur zwei, Kurt Freund und Arthur Bergen, die sich nur oberflächlich auf die Sache eingelassen hatten, völlig ihren Glauben an die Schriften der Frau Keech aufgaben. Fünf Mitglieder der Gruppe, die Posts, die Armstrongs und Frau Keech, die alle in der Zeit vor der Weltenkatastrophe eine sehr starke Überzeugung hatten und sich völlig auf die Sache einließen, gingen durch die Zeit des Fehlschlags und der Nachwirkungen mit einem starken, unerschütterlichen und bleibenden Glauben hindurch. Cleo Armstrong und Bob Eastman, die schon mit fester Hingabe nach Lake City gekommen waren, deren Glauben aber durch Ella Lowell erschüttert wurde, gingen aus dem Fehlschlag am 21. Dezember mit stärkerer Überzeugung als zuvor heraus...[5]

Wie dies alles die Wachtturm-Gesellschaft betrifft

Festinger und seine Koautoren betrachten nur wenige der historischen Milleniums-Bewegungen. Darunter waren die Milleriten, eine Sekte um die Wiederkunftshoffnungen für das Ende der Welt im Jahre 1843, wie dies William Miller lehrte. Die Empfindungen der Menschen in der Miller-Bewegung, nachdem das Jahr 1843 vergangen war, wurden in den Memoiren von F.D. Nichol beschrieben (der William Miller selbst nach dem Fehlschlag weiterhin in Schutz nahm):

Unsere kühnsten Hoffnungen und Erwartungen waren zunichte; uns überfiel ein solcher Geist der Traurigkeit, wie wir ihn zuvor nie erlebten. Es schien, als sei der Verlust aller irdischen Freunde kein Vergleich. Wir weinten und weinten, bis der Tag dämmerte. Ich grübelte vor mich hin und sagte mir, die Zeit in der Hoffnung auf die Wiederkehr sei die erfüllteste und schönste in meinem ganzen christlichen Leben gewesen. Wenn sich dies nun als Fehlschlag erwies, was blieb dann noch in meinem christlichen Leben übrig? Hat sich die Bibel als Fehlschlag erwiesen? Gibt es keinen Gott, keinen Himmel, keine goldene Heimstatt, kein Paradies? Ist das alles eine geschickt ersonnene Fabel? Werden unsere sehnsüchtigen Erwartungen nie Realität? Und so hatten wir einen Grund, zu trauern und zu weinen, wenn alle unsere sehnsüchtigen Erwartungen verloren waren. Und wie gesagt, wir weinten bis zum Morgengrauen.[6]

Interessanterweise spricht Festinger nicht über die Internationalen Bibelforscher (später bekannt als Zeugen Jehovas), die ausgiebig mehrere damalige millenaristische Theorien übernahmen. Im Januar 1876 begründete Charles Taze Russell (* 16. Februar 1852 in Allegheny, Pennsylvania; † 31. Oktober 1916 in Pampa, Texas) eine Partnerschaft mit Nelson H. Barbour (* 1824 in Toupsville, New York; † 1905), einem ehemaligen Milleriten. Barbour überzeugte Russell, daß das Jahr 1873 das Ende von 6000 Jahren Menschheitsgeschichte markiere. Der Historiker M. James Penton schreibt, Barbour sei

weit über Wendell und seine Anhänger hinausgegangen, die ursprünglich geglaubt hatten, 1873 käme die Wiederkehr [Christi] und die Verzehrung der Erde in Feuer. Als sich in dem Jahr nichts Sichtbares ereignete, war man erst ratlos, bis B. W. Keith, ein Leser des Herald of the Morning, Benjamin Wilsons Übersetzung von parousia als 'Gegenwart' entdeckte. Darauf begannen wie Russell auch Barbour und Paton an die Vorstellung einer unsichtbaren Gegenwart Christi zu glauben, von der sie meinten, sie habe pünktlich 1874 begonnen.[7]

Penton, als Historiker selbst früher ein Zeuge Jehovas und ein Kritiker der Bewegung, gibt zusätzliche Informationen zu den Vorhersagen Russells:

Keine größere christliche Sektenbewegung hat mit solcher Beharrlichkeit und so eindeutig oder unter Nennung derart spezieller Zeitpunkte das Ende der gegenwärtigen Welt vorhergesagt wie Jehovas Zeugen -- zumindest seit den Anhängern Millers und den Adventisten (Second Adventists) im 19. Jahrhundert, den direkten Vorfahren der Zeugen in bezug auf den Millenarismus. In den Anfangsjahren ihrer Geschichte blickten sie ständig auf bestimmte Daten -- 1874, 1878, 1881, 1910, 1914, 1918, 1920, 1925 und andere Jahre --, die eindeutige eschatologische Bedeutung haben sollten. Charles Taze Russell, ihr Begründer, Organisator und erster Präsident der Watch Tower Society (ihrer wichtigsten Rechtskörperschaft), glaubte ursprünglich, das Jahr 1874 markiere den Beginn der "unsichtbaren Gegenwart" Christi, im Jahre 1878 und später 1881 erführen die Mitglieder der Kirche eine "Verwandlung" von Fleisches- in Geistesleiber und 1910 sei Zeuge des Beginns weltweiter Unruhen, die zum Ende der Welt führten -- das im Jahre 1914 käme. Als diese Vorhersagen fehlschlugen, mußte man sie umdeuten, vergeistigen oder in manchen Fällen schließlich fallen lassen. Das hielt Russell und seine Anhänger allerdings nicht davon ab, neue Zeitpunkte aufzustellen oder auch nur zu verkünden, das Ende dieser Welt oder des Systems der Dinge sei bloß noch ein paar Jahre oder auch Monate entfernt.[8]

Die Ergebnisse des Fehlschlags der Vorhersage innerhalb der Organisation wurden später von der Wachtturm-Gesellschaft (WTG) selbst zugegeben [übersetzt nach dem englischen Original]:

Der Wachtturm und die begleitenden Publikationen der Gesellschaft haben seit vierzig Jahren die Tatsache betont, daß das Jahr 1914 Zeuge der Aufrichtung des Königreiches Gottes und der völligen Verherrlichung seiner Kirche würden. Während dieser Zeitperiode der vierzig Jahre hat Gottes Volk auf Erden ein Zeugniswerk durchgeführt, das durch Elia und Johannes den Täufer vorgeschattet wurde. Das gesamte Volk des Herrn hielt in freudiger Erwartung Ausschau nach dem Jahr 1914. Als die Zeit kam und verging, gab es viel Enttäuschung, Kummer und Klagen, und das Volk des Herrn erfuhr große Schande; insbesondere die Geistlichkeit und ihre Verbündeten machten sich über sie lustig und wiesen mit Verachtung auf sie, weil sie so viel über 1914 gesagt hatten und was sich ereignen würde, und ihre 'Prophezeiungen' hatten sich nicht erfüllt.[9]

Der Fehlschlag von 1914 schreckte die Mehrzahl der Bibelforscher nicht ab. Russell besaß die Fähigkeit, sie mit neuer Glut und Hoffnung zu erfüllen, wie der Watchtower vom 15. Dezember 1914 zeigt:

Gott hat verheißen, Er wolle Seinen wahren Kindern zur bestimmten Zeit Licht verleihen, und daß sie zur passenden Zeit die Freude erleben sollten, Seinen Plan zu verstehen ... Selbst wenn die Zeit für unsere Verwandlung nicht innerhalb von zehn Jahren käme, was mehr sollten wir erbitten? Sind wir nicht ein gesegnetes, glückliches Volk? Ist nicht unser Gott treu? Wenn jemand etwas Besseres weiß, soll er es ergreifen. Wenn jemand von euch etwas Besseres findet, wird er es uns hoffentlich mitteilen. Wir wissen von nichts Besserem, das auch nur halb so gut wie das ist, was wir in Gottes Wort gefunden haben.[10]

Russell überarbeitete seine Chronologie und verschob das Weltende auf 1915. Nachdem das Ende auch 1915 nicht gekommen war, wurde es für 1918 [deutsche Ausgabe: nach 1918] angesetzt, "wenn Gott die Kirchen insgesamt und die Kirchenmitglieder zu Millionen vernichtet".[11]

Beim Tode von C. T. Russell im Jahre 1916, übernahm J. F. Rutherford die Rolle des "Propheten" und verkündete 1920 in einer Broschüre und Rede desselben Namens: "Millionen jetzt lebender Menschen werden nie sterben". Rutherford setzte mit dem Jahr 1925 ein neues Datum für das Ende an und behauptete auch, Gott werde zu dieser Zeit die Treuen der alten Zeit wie Abraham, Isaak, David, usw. zu Leben auf der Erde auferwecken. So sicher war sich Rutherford seiner Sache, daß er folgende Feststellungen traf:

Daher können vertrauensvoll erwarten, dass mit 1925 die Rückkehr Abrahams, Isaaks, Jakobs und der glaubenstreuen Propheten des alten Bundes eintreten wird, besonders derjenigen, deren Namen von dem Apostel in Hebräer 11 genannt werden - zu dem Zustande menschlicher Vollkommenheit."[12]
Das Datum 1925 wird "sogar noch schärfer von der Bibel gekennzeichnet" als 1914.[13]
Unser Gedanke ist, daß 1925 in der Bibel eindeutig festgesetzt ist. Was Noah betrifft, so hat ein Christ heute vielmehr, worauf er seinen Glauben stützen kann, als Noah hatte, worauf er seinen Glauben an eine kommende Flut stützte.[14]

Rutherford ließ für die Treuen der alten Zeit sogar ein Haus in San Diego bauen, und es wurde ihnen, als es gebaut war, urkundlich übertragen![15] Es stand dort zum Zeugnis für die Fähigkeit der Zeugen, die Zeit des Fehlschlags zu überstehen. Das Haus und die Prophezeiung wurden erst 1943 aufgegeben; dann wurde das Haus umgehend verkauft. Heute erzählt man den Zeugen, es sei 'für den Gebrauch Bruder Rutherfords' gebaut worden.[16]

Während der 30er Jahre hielt Rutherford die Zeugen mit dem Evangelisierungswerk beschäftigt. Wie bei der Fliegende-Untertassen-Sekte begann Rutherford zu lehren, ihre Enttäuschung über die fehlgeschlagene Prophezeiung habe eine große Bedeutung und die Daten seien auch irgendwie wichtig, doch schließlich "entschied er sich gegen" das Festsetzen von Daten:

Bei Jehovas Getreuen auf der Erde gab es ein gewisses Maß an Enttäuschung bezüglich der Jahre 1914, 1918 und 1925, das eine bestimmte Zeit anhielt. Später lernten die Getreuen, daß diese Daten eindeutig in den Schriften festgelegt waren; und sie lernten auch, keine Daten mehr für die Zukunft festzusetzen und vorherzusagen, was zu einem gewissen Zeitpunkt geschehen werde...[17]

Die Enttäuschung hielt jedoch nicht lange an. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde als Beginn von Harmagedon angesehen. Eine interne WTG-Publikation sagte 1940:

Das Königreich ist da, der König inthronisiert. Harmagedon steht bevor. Die Segnungen der glorreichen Herrschaft Christi für die Welt werden sofort folgen. Daher ist der große Höhepunkt erreicht. Drangsal hat die befallen, die zum Herrn stehen.[18]

Der Watchtower vom 15. September 1941 (Seite 288, nicht deutsch) schrieb sogar, man lebe in den "verbleibenden Monaten" vor Harmagedon. Man befand sich mitten im Harmagedon-Fieber. Barbara Grizzuti Harrison, eine ehemalige Angehörige der Wachtturm-Bethelfamilie, gibt uns einen Einblick in das Klima der Erwartung:

So fest glaubten Jehovas Zeugen, daß dies stimme, daß es Personen gab, die sich 1944 weigerten, sich die Zähne plombieren zu lassen und alle Sorge um den eigenen Körper zurückstellten, bis Gott sie in Seiner neuen Welt wiederherstellte. (Ein eifriger ZJ, den ich kannte, hatte einen Vorrat Gewürznelken bei sich, um sich die Schmerzen an einem Backenzahn zu erleichtern, den er nicht vom Zahnarzt behandeln lassen wollte, da die Zeit, bis Jehova ihm einen neuen, vollkommenen gab, so kurz sei. Bis heute assoziiere ich den Geruch von Nelken mit bevorstehendem Unglück.)[19]

Ein neues Datum - 1975

Rutherfords Ende kam 1942, als er starb und N. H. Knorr seinen Platz als Schlüsselglied des "treuen und verständigen Sklaven" einnahm und prohetische Botschaften an die ZJ ausgab. Doch das größere "Verdienst" liegt bei Frederick W. Franz, Knorrs Vizepräsidenten, wegen der Vorhersage des Jahres 1975, die zuerst in dem Buch Ewiges Leben in der Freiheit der Söhne Gottes auftauchte. Franz ließ wohl Vorsicht walten bei der Aussage, dieses Datum markiere eindeutig das Ende, doch (durch öffentliche Ansprachen und Wachtturm-Artikel) traf er Feststellungen wie: "Gemäß dieser zuverlässigen Bibelchronologie werden 6000 Jahre, von der Zeit der Erschaffung des Menschen an, mit dem Jahre 1975 enden, und die siebente Periode von eintausend Jahren Menschheitsgeschichte beginnt im Herbst des Jahres 1975 u.Z."[20] Jeder ZJ wußte, daß das Ende der 6000 Jahre den Beginn der Tausendjahrherrschaft Christi meinte. In der Zeitschrift Awake! (deutsch: Erwachet!) hieß es am 8. Oktober 1968, es sei passend für Gott, gemäß diesem Muster die Herrschaft der Menschen zu beenden und sein glorreiches tausendjähriges Reich folgen zu lassen (siehe auch: Ewiges Leben in der Freiheit der Söhne Gottes, Seite 30).

In Ansprachen an das Personal in Brooklyn stellte Franz (in bezug auf das Ende) vor einer Menge von 2000 Zeugen fest, wir 'wüßten nicht, ob es Wochen oder noch Monate seien'.[21] Viele weitere Aussagen erschienen gedruckt. Ein reisender Aufseher hielt sogar eine öffentliche Ansprache und wies darauf hin, es zeuge von einem völligen Mangel an Glauben, wenn man bezweifelte, daß 1975 das Ende käme![22] Ein Jahr später wurde Franz der vierte Präsident der Wachtturm-Gesellschaft. Anders als die Fliegende-Untertassen-Sekte und die Milleriten war die WTG zuerst nicht bereit, die Verantwortung für den Fehlschlag zu übernehmen; sie schob die Sache auf "übereifrige Brüder". Viele Zeugen jedoch waren empört, und schließlich übernahm die WTG öffentlich großenteils die Verantwortung. Wer Zeugen zu Freunden hatte, bemerkte mit dem Herannahen des Jahres 1975 oftmals Veränderungen in deren Leben. Janice Godlove berichtet über ihren Bruder und ihre Schwägerin, die beide Zeugen waren:

Mit dem Herannahen des Jahres 1975 stiegen die Anzeichen der Spannung. Uns fielen merkwürdige Versatzstücke des familiären Klimas auf. Als sich die Zugvögel im Herbst sammelten, kam eine fast schon morbide Faszination auf. Sie gaben uns all ihre Konservendosen, weil sie sie 'nicht mehr brauchten'. Hinter die Waschmaschine war ein Versteck in die Holzwand geschnitten, und den Knaben (die damals 3 und 5 Jahre alt waren) wurde gesagt, wenn sie Schreie hörten, sollten sie in die Küche laufen und sich verstecken. Bill war von dem Fehlschlag von 1975 so enttäuscht, daß er einen Selbstmordversuch unternahm. Aber das Faltblatt, das wir an seinem Krankenhausbett hinterließen, blieb ungelesen, und die Familie blieb weiterhin in der Organisation.[23]

Heute wird 1975 heruntergespielt, aber es wird bis jetzt weder ein Grund für den Fehlschlag genannt, noch erscheint am Horizont ein neues Datum. Einige neuere Bekehrte wissen sogar nicht einmal etwas von den Erwartungen bezüglich 1975.

Ein Muster für die Zukunft

Wenn wir die Wachstumszahlen vor und nach jedem Fehlschlag untersuchen, zeigt sich ein bestimmtes Muster. Wenigstens zwei Jahre vor jedem prophetischen Datum gab es eine enorme Zunahme an Mitgliedern, gefolgt von einem Rückgang einiger weniger (als "Reinigung" der Organisation von einigen Untreuen angesehen), dann ein weiteres schnelles Wachstum, als das Evangelisierungswerk aufs Neue in den Vordergrund gerückt wurde. Es scheint unfaßbar zu sein, wie die ZJ die Implikationen eines jeden Fehlschlags ignorieren konnten. Außenstehende bescheinigen den ZJ fehlenden Verstand, weil sie die Organisation nach so vielen Fehlschlägen nicht verlassen. Doch dabei sehen sie nicht die Dynamik der Gedankenkontrolle in Sekten. Sogar viele Ex-Zeugen verstehen nicht, daß der neuerliche Fehlschlag der Bedeutung des Jahres 1914 und "dieser Generation" diejenigen nicht ernstlich betrifft, die die Reihen der ZJ anwachsen lassen. Und das trifft auch auf den Tod von F.W. Franz zu. Die Ergebnisse der Gedankenkontrolle und eines bedingungslosen Gehorsams werden dieselben Auswirkungen haben wie zur Zeit Russells. Seine Ansicht war: 'Wohin sonst können wir gehen'? Barbara Harrison schreibt über diese Einstellung:

Das ist natürlich einer der Schlüssel zum Überleben der Organisation, die Russell auf weichen Mystizismus, auf herrliche Visionen und Entfremdung von der Welt aufbaute. Die Zeugen konnten nirgendwo anders hingehen. Ihr Einsatz für ihre Religion war total; sie zu verlassen, bedeutete den geistigen und seelischen Bankrott. Sie waren nicht ausgerüstet, in einer ungewissen Welt zu funktionieren. Es war ihr Leben. Das aufzugeben, wäre der Tod.[24]

Dasselbe Phänomen der Abhängigkeit bis auf den Tod ist in Tausenden von Sekten auf der ganzen Welt wirksam. Die Leute fragten sich nach Jonestown: "Warum haben sie die Sekte nicht verlassen, als sie sahen, was aus Jim Jones wurde?" Die Leute in Jonestown antworteten durch ihre Handlungsweise: "Wohin sonst sollen wir gehen?" Sie hatten alle Brücken abgebrochen, um ihrem Messias bis in den Tod zu folgen. Nach fast 120 Jahren und mehreren fehlgeschlagenen Vorhersagen ist die Wachtturm-Bewegung ein hinreichendes Zeugnis, daß fehlgeschlagene Vorhersagen nicht unbedingt zur Auflösung der Sekte führen. Der Fehlschlag von 1975 führte zu einer Reduzierung der Mitgliederzahl um weniger als 2%.[25] Die WTG wird immer in der Lage sein, schlaue Rationalisierungen bezüglich der wechselnden Daten zu entwickeln, wie ihre Geschichte dies zeigt. Heute wächst die WTG weltweit um jährlich etwa 5%; 3,7 Millionen kommen an unsere Türen und es gibt über 9 Millionen Sympathisanten![26] Wenn die Auflösung der WTG einmal kommt, und das ist unvermeidlich, wird dies eher auf einen inneren Dissens als auf die fehlgeschlagenen Vorhersagen zurückzuführen sein. Bis dahin wollen wir hoffen und beten, daß noch die Augen vieler Zeugen Jehovas für die Gnade und Barmherzigkeit unseres Herrn Jesus Christus geöffnet werden und sie zu Ihm kommen.

Randall Watters, Bethel Ministries Newsletter Mai/Juni 1990 (jetzt Free Minds Journal)


Anmerkungen

1. Harold O.J. Brown, Heresies (New York: Doubleday, 1984), Seite 67.

2. In aller Kürze: Festinger erklärt die Theorie der kognitiven Dissonanz so: "Dissonanz und Konsonanz hängen mit Wahrnehmung und Auffassung zusammen - also mit Meinungen, Überzeugungen, der Kenntnis der Umgebung und der Kenntnis der eigenen Handlungen und Empfindungen. Zwei Meinungen oder Überzeugungen oder Erkenntnisse sind dissonant, wenn sie nicht zueinander passen - d.h., wenn sie widersprüchlich sind oder, wenn man sich auf zwei Punkte beschränkt, der eine nicht aus dem anderen folgt. So hat beispielsweise ein Zigarettenraucher, der glaubt, das Rauchen schade seiner Gesundheit, eine Meinung, die dissonant zu dem Wissen steht, daß er weiterhin raucht. Er hegt vielleicht andere Meinungen, Überzeugungen oder Erkenntnisse, die mit dem Fortsetzen des Rauchens konsonant sind, doch trotzdem gibt es da diese eine Dissonanz ... Dissonanz schafft Mißbehagen und damit den Druck, diese Dissonanz aufzulösen. Versuche, diese Dissonanz zu verringern, stehen für die beobachtbaren Anzeichen, daß eine solche Dissonanz besteht. Solche Versuche nehmen eine oder alle drei der folgenden Formen an:

  1. Die Person versucht vielleicht, eine oder mehrere Überzeugungen, Meinungen oder Verhaltensweisen, die an dieser Dissonanz beteiligt sind, zu ändern;
  2. sie mag sich neue Fakten oder Überzeugungen aneignen, die die bestehende Konsonanz vergrößern; und auf diese Weise die totale Dissonanz verkleinern, oder
  3. sie vergißt oder reduziert die Bedeutung dieser Wahrnehmungen, die zueinander dissonant sind" (Seite 25-26) ... "Die Dissonanz wird aber auch reduziert oder beseitigt, wenn der Angehörige einer Bewegung seine Augen vor der Tatsache verschließt, daß die Vorhersage nicht eingetroffen ist. Doch die meisten Menschen einschließlich der Angehörigen einer Bewegung stehen fest in der Realität und können solche eindeutigen und unleugbaren Tatsachen nicht aus ihrer Wahrnehmung ausradieren. Sie können jedoch versuchen, sie zu ignorieren, und das tun sie gewöhnlich auch. Sie reden sich vielleicht selbst ein, daß der Zeitpunkt verkehrt war, die Vorhersage aber schließlich doch eintrifft; oder sie mögen wie die Milleriten einen neuen Zeitpunkt festsetzen.... Rationalisierung kann die Dissonanz etwas verringern. Damit sie aber wirksam wird, wird die Unterstützung anderer benötigt, um die Erklärung oder Revision als richtig erscheinen zu lassen. Zum Glück kann der enttäuschte Gläubige sich an andere in derselben Bewegung wenden, bei denen die gleiche Dissonanz sowie der Druck besteht, sie zu beseitigen. Damit wird die neue Erklärung unterstützt und die Angehörigen der Bewegung können sich vom Schock des Fehlschlags etwas erholen." --Leon Festinger, Henry W. Riecken und Stanley Schachter, When Prophecy Fails, (New York: Harper and Row, 1956), Seiten 27, 28.

3. Ibid. Seite 3.
4. Ibid. Seite 28.
5. Ibid. Seite 208.
6. Ibid. Seite 22; zitiert aus Hiram Edson, Fragment of ms. on his life and experience, Seiten. 8, 9, zitiert in Francis D. Nichol, The Midnight Cry (Tacoma Park, Washington, D.C.: Review and Herald Publishing Company, 1944), Seite 247-248.
7. M. James Penton, Apocalypse Delayed (Toronto: University of Toronto Press, 1985), Seite 18.
8. Ibid., Seite. 3-4 [zitiert nach der in Vorbereitung befindlichen deutschen Übersetzung].
9. Joseph Rutherford, Light, Band I (New York: Watchtower Bible & Tract Society, 1930), Seite 194.
10. The Watch Tower, 15. Dezember 1914, Seite 377 [Übersetzung nach dem englischen Original]
11. Wachtturm Bibel&Traktat Gesellschaft, Das vollendete Geheimnis, Ausgabe 1917, Seite 334.
12. WTBTS, Millionen jetzt lebender Menschen werden nie sterben, 1920, Seite 81.
13. Der Wacht-Turm, 1. Januar 1923 Seite 15
14. Watch Tower., 1.April 1923, Seite 106.[diese und folgende Übersetzungen nach dem englischen Original]
15. Consolation (WTBTS), 27. Mai 1942, Seite 3, auch Golden Age (WTBTS), 19. März 1930, Seiten 406, 407.
16. WTBTS, Jahrbuch 1975, Seite 194.
17. WTBTS, Vindication, Band I, 1931, Seiten 338, 339.
18. WTBTS, The Messenger, 1.September 1940, Seite 6.
19. Barbara Grizzuti Harrison, Visions of Glory (New York: Simon and Schuster, 1978), Seite 16.
20. WTBTS, Ewiges Leben in der Freiheit der Söhne Gottes, deutsch 1967, Seite 29.
21. F.W. Franz, wörtlich zitiert von Randall Watters, am 2. März 1975 anwesend bei der Verabschiedung neuer Gilead-Schüler. Siehe Wachtturm, 1. August 1975, Seite 477.
22. So in einer Ansprache C. Sunutko, Kreisaufseher, im Jahre 1967 (Tonbandaufnahme liegt vor).
23. The Bethel Ministries Newsletter, November 1987, in einem Brief von Janice Godlove über ihren Bruder und ihre Schwägerin.
24. Harrison, Seite 167.
25. Raymond Franz, Der Gewissenskonflikt (Claudius-Verlag), Seite 204.
26. WTG, Jahrbuch 1990, Seite 40-41.